Im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur sprach der Autor Wolfgang Schorlau vor vollem Hörsaal im Kupferbau. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen rund um den Privatermittler Georg Dengler.
Viele Jahre ist es her, seitdem Wolfgang Schorlau in Tübingen Soziologie und Germanistik studierte. Dieser erste Kontakt mit der beschaulichen Stadt am Neckar war allerdings nur von kurzer Dauer. Nach zwei Wochen merkte er: „Eine akademische Laufbahn ist eindeutig nichts für mich.“ Für seine Fans war diese Entscheidung im Rückblick ein Glücksfall. Schorlau ist heute Kriminalbuchautor und hat sich vor allem mit seinen Romanen rund um den Privatermittler Dengler eine breite Leserschaft erschrieben. Wie das Leben manchmal so spielt, hat ihn also gerade die Entscheidung, das akademische Leben hinter sich zu lassen, schließlich wieder zurück in die Lehrräume der Universität gebracht. Dieses Mal aber nicht als Student: Er hält eine Gastvorlesung für die Tübinger Poetik-Dozentur. Die Tübinger Poetik-Dozentur lädt seit 1996 jedes Jahr Schriftsteller für Vorlesungen, Seminare oder Workshops ein. Dieses Jahr steht sie unter dem Motto „Poetics of Crime“, das Genre Krimi ist also im Mittelpunkt. Am Freitagabend wurde das Angebot rege genutzt: Schorlaus Besuch lockte viele Literaturinteressierte Tübinger, der große Hörsaal im Kupferbau war rappelvoll.
Hochpolitisch und oft unbequem
Die Kriminalromane des 66-jährigen Stuttgarters sind in hohem Ausmaß politisch aufgeladen. „So politisch, dass es weh tut“, bezeichnet sie Dorothee Kimmich, Leiterin der Poetik-Dozentur, in ihrer Vorstellungs-Rede für Schorlau. Denn der Autor geht mit seinen Büchern gerne dahin, wo es Ungereimtheiten gibt, wo Dinge im Dunkeln bleiben und wo Behörden versagen. Er legt den Finger tief in die Wunde der Traumata der deutschen Nachkriegs-Geschichte. In vergangenen Fällen ermittelte sein Protagonist beispielsweise zu RAF-Morden oder zum Oktober-Attentat 1980. Jedes seiner Bücher ist verbunden mit aufwändigen Recherchearbeiten zu dem jeweiligen Thema. Als ,,anstrengendste Recherche, die ich je gemacht habe“ bezeichnet er die Vorarbeiten zu seinem neuesten Buch „Die schützende Hand“. Es beleuchtet Ungereimtheiten in den Ermittlungen rund um die rechtsextreme Terrorgruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Dengler soll herausfinden, wer Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschoss. Die allgemein anerkannte Version zu dem Fall lautet folgendermaßen: Nach ihrem letzten Banküberfall verschanzen sich Böhnhardt und Mundlos in ihrem Wohnwagen. Als die Polizei an dem Wohnwagen eintrifft, erschießt Mundlos Böhnhardt, legt ein Feuer und erschießt sich dann selbst. Schorlaus Ansicht nach spricht einiges gegen einen solchen Tathergang. Beispielsweise fanden sich an Mundlos‘ Händen keine Schmauchspuren, wie es nach dem betätigen einer Waffe normalerweise der Fall wäre. Außerdem war der Lauf der zur Tötung benutzten Pumpgun zurückgezogen. Mundlos kann diesen aber unmöglich selbst betätigt haben, nachdem er sich schon selbst erschossen hatte.
Die Leidenschaft für sein Genre ist Wolfgang Schorlau anzumerken. „Der Kriminalroman wurde in Deutschland lange Zeit als eine minderwertige Trivialliteratur betrachtet“, beklagt er. „Es hat sich etwas Grundlegendes in der Wahrnehmung von Kriminalliteratur getan“, stellt Schorlau anschließend fest. Und er fügt an: ,,Der Kriminalroman wird weiter gedeihen.“
Wie viel Realität passt in einen Roman?
„Dengler-Romane sind ein literarisches Experiment: Wie viel Realität passt in einen Roman?“, erklärt Schorlau. Diese radikale Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit geht manchen zu weit, auch in der Süddeutschen Zeitung wurde Schorlau jüngst das Spinnen von Verschwörungstheorien vorgeworfen. Über mangelnde Medienpräsenz kann Wolfgang Schorlau sich ohnehin nicht beschweren: Mit „Die schützende Hand“ kam vor kurzem zum dritten Mal eine Verfilmung einer seiner Romane zur besten Sendezeit im ZDF.
Offene Fragen
Der NSU-Prozess läuft derweil immer noch, momentan tragen nacheinander alle Nebenkläger ihre Plädoyers vor. Wer sich mit der Thematik befasst, betritt recht schnell Sumpfgebiet. Viele Fragen sind ungeklärt: Bestand der NSU wirklich nur aus drei Personen? Wie lässt sich das massive Versagen der Behörden, vor allem auf Seiten des Verfassungsschutzes, erklären? Es ist resignierend, denn am Ende weiß man immer nur, was man nicht weiß. Auch wer „Die schützende Hand“ liest, darf keine Antworten, sondern vor allem viele neue Fragen erwarten. Das ist höchstspannend. Tut aber auch weh.
Im Rahmen der Tübinger Poetik Dozentur besucht auch Håkan Nesser die Universität. Seine Auftritte finden an folgenden Tagen statt:
27. November, 20 Uhr, Audimax, Neue Aula
28. November, 20 Uhr, Audimax, Neue Aula
Fotos: Leo Schnirring