Ein geisteskranker Lügner? Ein narzisstischer Selbstdarsteller? Oder doch einer, der entlarvte, Missstände aufdeckte und der Branche den Spiegel vorhielt? Der Hochstapler Gert Postel polarisiert – so auch wieder diesen Donnerstagabend bei seiner Lesung im Haus der Landsmannschaft Schottland.
Protzige Boliden und adrett gekleidete Mittzwanziger stehen vor dem Haus der Landsmannschaft Schottland. Ein Mann ist zu Besuch, der sowohl Anerkennung als auch Ablehnung hervorruft wie kaum ein anderer: Der verurteilte Hochstapler Gert Postel. Der gelernte Postbote hatte mehrfach unter Vortäuschung falscher Tatsachen als Facharzt in höchsten Ämtern gearbeitet.
Eine filmreife Geschichte
Der gebürtige Bremer Postel schloss nach seiner mittleren Reife die Lehre zum Postboten ab. Als seine unter Depressionen leidende Mutter aufgrund von falscher psychiatrischer Behandlung Suizid beging, begann Postel nach eigenen Aussagen sich „öffentlich über die Psychiatrie lustig zu machen“. Der falsche Doktor bewarb sich mehrfach auf diverse Stellen als Facharzt, Rechtspfleger und bei der Bundeswehr. Obwohl Postel mehrmals aufflog und verurteilt wurde, ergab sich für ihn nach der Wende eine unglaubliche Gelegenheit: Im Landkreis Leipzig wurde er als Oberarzt in einer psychiatrischen Klinik angenommen. Dort arbeitete er fast zwei Jahre lang, schrieb Gutachten und ließ Ärzte zu. Das Groteske: „Dr. Postel“ täuschte die akademische Welt sogar unter seinem Klarnamen!
„Der phänotypische Professor in Deutschland ist eine Diva.“
Die Lesung seines Buches „Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers“ fand als öffentliche Veranstaltung im Haus der Studentenverbindung Landsmannschaft Schottland statt. Der mit Holz vertäfelte, dunkle Raum war gefüllt mit „alten Herren“ und Aktiven, während Postel seinen Feldzug gegen die Psychiatrie und die Medizin unter großem Gelächter als lustigen Lausbubenstreich inszenierte.
„Ich bin ein grundehrlicher Mensch!“
Der gelernte Postbote beharrt darauf, ein „Hochstapler unter Hochstaplern“ gewesen zu sein und kommt zu dem Schluss:
„Die Psychiatrie ist keine Wissenschaft“, sondern eine Scheinkunst, „die jede dressierte Ziege kann“.
Seine Abneigung gegenüber diesen Fachbereichen bringt „Doktor Postel“ mit polemischen Parolen zum Ausdruck, die der aufmerksame Zuhörer schon aus diversen Talkshows kennt, bei denen Besagter zu Gast war. Er nutzt außerdem immer wieder das Bild des Künstlers: Er, der Schauspieler, der mit seiner Rolle die akademische Welt auf den Kopf stellte. Auf die Frage, wie er denn sein Treiben rechtfertige, antwortet er, die Psychologie sei in einem Rechtfertigungszwang, nicht er. Professoren attestiert er gar „antisoziale Potenzen“ die nötig seien, um in ein solches Amt zu gelangen.
Durch die markige Wortwahl, das selbstbewusste Auftreten und die Vortragsweise, die vor Komik nur so strotzt, entgehen dem Betrachter dieser Selbstinszenierung leicht die Ungereimtheiten hinter dieser Rolle.
Postel stellte als Oberarzt mehrere psychatrische Gutachten aus, die daraufhin als Beweismittel vor Gericht genutzt wurden. Der ehemalige Briefträger hatte also einen enormen Einfluss auf das Leben vieler Menschen, die auf Grundlage seiner Gutachten verurteilt wurden. Auch wenn nach seiner Enttarnung keine seiner Beurteilungen für ungültig erklärt wurde, ist die Rechtmäßigkeit dieser mehr als fraglich. Postel sagt selbst über die Zeit vor seiner Tätigkeit als Oberarzt: „Hätte ich eine Verantwortung gehabt, und sei es für einen Hund, hätte ich mich nie beworben“. Hier offenbart sich ein widersprüchliches Bild von Verantwortung.
Weiter behauptet Postel, die Enthüllung seines Feldzugs kaum geplant zu haben. Er, der durch akribische Planung erst in ein solches Amt gelangt war, der mit unglaublicher Dreistigkeit Behörden und Beamten täuschte, von telefonischen Empfehlungen hoher Ärzte (er rief natürlich selbst an und empfahl natürlich sich selbst) bis hin zu gefälschten Behördenstempeln, die er sich in der Rolle eine Stempelfabrikanten beschaffte. Dieses Genie der Berechnung und der Organisation soll keinen Plan für die letztendliche Enthüllung seines Streichs gehabt haben?
Selbstkritik? Fehlanzeige.
Grundsätzlich weißt Postel jedwede Schuldzuweisung zurück. Der „Herr Doktor“ wurde geradezu ausfällig, wenn er kritisiert wurde. Zum Beispiel, als er einen Zuhörer, der sein Handeln verurteilte, fast bedrängte. Der falsche Facharzt steht heute immer noch in der Öffentlichkeit (sein Buch avancierte zum Bestseller, diverse Fernsehauftritte folgten) und scheint den Zuspruch und die Bewunderung für seinen Betrug zu genießen. Selbstkritik? Fehlanzeige. Passend dazu bekommt das Thema seines Vortrags zur Bewerbung auf die Oberarztstelle eine ironische Note: Die Lügensucht zum Zwecke der Ich-Erhöhung.
Doch gerade, weil man Gert Postel kaum eine bekannte Bezeichnung zuschreiben kann (Postel selbst wehrt sich vehement gegen diese Form des „Etikettierens“), bleibt er eine so spannende Persönlichkeit. Ist er eine moderne Form des „Hauptmanns von Köpenick“ oder doch nur ein Egozentriker mit Münchhausen-Syndrom? Ganz gewiss ist er einer der spannendsten Tübinger Bürger.
Beitragsbild und Foto 2: Florian Sauer
Foto 1: wikimedia.org