„ES GIBT KRIEG – ÜBERALL“

DER TÜBINGER STUDENT SIRWAN ALI BERICHTET IM INTERVIEW ÜBER SEINE SYRISCHE HEIMAT

Nach vier Semestern Studium kehrte Sirwan Ali Damaskus 2008 den Rücken und zog nach Deutschland. Mittlerweile studiert er Ur- und Frühgeschichte, Paläoanthropologie und Vorderasiatische Archäologie auf Magister. Wie nimmt er die momentanen Geschehnisse in seiner Heimat wahr? Welche Zukunftsperspektiven ermöglichen sich für das Land?

kupferblau: Von Syrien nach Deutschland. Das war bestimmt in vielerlei Hinsicht eine große Umstellung.
Sirwan Ali:
Es war für mich nicht so ein großer Schock, weil ich in Syrien im Goethe-Institut einen Sprachkurs gemacht habe. So kam ich schon ein bisschen in Kontakt mit der deutschen Kultur. Ich hatte einen Tandempartner und deutsche Freunde. Das Zwischenmenschliche war für mich nicht neu. Aber dieses System in Deutschland, wie alles organisiert ist, sorgt dafür, dass ich meine Arbeit auch ohne Korruption erledigen kann. Der Unterschied ist mir positiv aufgefallen.

Wie hast du die Anfänge des arabischen Frühlings in Syrien wahrgenommen?
Ich muss ehrlich sagen, ich war schockiert. Ich hab das so nie erwartet. Natürlich gab es Unterdrückung. Die Situation in Syrien war unerträglich, aber ich hab gedacht, dass die Leute zu feige sind, um das zu machen. Ich hatte Angst. In Syrien gibt es viele Geheimdienste. Wir haben Angst vor unserem Schatten und auch die Wände haben Ohren. Es ist vergleichbar mit der DDR, aber viel schlimmer. Ich hab damals Probleme bekommen, weil ich meine Meinung gesagt habe. Ich hatte kein Nationalgefühl für Syrien. Ich hab mich nicht als Syrer gefühlt, eher als Kurde. Aber seit der Revolution bin ich irgendwie stolz darauf, dass ich Syrer bin und dass es in Syrien so was gibt.

Informationen über die Ausein andersetzungen sickern nur vereinzelt ins Ausland. Wie erfährst du von der aktuellen Lage?
Von unterschiedlichen Seiten. Aus der Zeitung in meiner WG und über Facebook zum Beispiel. Es gibt so viele Gruppen von jungen Leuten, die diese Revolution unterstützt und bekannt gemacht haben und von diesen Seiten bekommt man jeden Tag Nachrichten und Videos. Die Videos habe ich abgeschaltet weil sie mich tief getroffen haben. Ich hatte schlechte Träume davon. Ich lese aber jeden Tag mindestens eine Stunde über die Geschehnisse in Syrien.

Hast du auch Kontakt zu Leuten, die gerade in Syrien studieren?
Ja, ich habe meine ganze Familie dort und viele Freunde. Ich telefoniere mit Syrien ein- bis zweimal in der Woche. Das Studium wird stark durch den Konflikt beeinflusst. Vielleicht sind die Vorlesungen jetzt besser, weil mehr als 60 % der Studenten nicht kommen. Nicht alle leben in Damaskus selbst, viele leben in Vororten. Wenn du in Damaskus lebst, kannst du problemlos in die Uni, aber wenn du sozusagen wie hier in Hagelloch wohnst, gibt es viele Kontrollpunkte auf dem Weg. Es gibt überall Krieg und du weißt nicht, wann eine Gruppe kommt und versucht, Probleme zu machen. Man muss ehrlich sagen: nicht alle, die sich heutzutage als Opposition darstellen, sind auch oppositionell eingestellt. Nach vier Uhr oder fünf Uhr nachmittags fängt dann der Krieg an und man kann nicht mehr raus gehen. Ich hab damals vor vier Jahren mein Leben in Damaskus geliebt. Ich bin immer abends mit meinen Freunden in die Altstadt gegangen. Heute gibt es dieses Leben gar nicht mehr.

Der Konflikt dauert nun schon lange an. Viele Augen richten sich auf die international einflussreichen Länder und die UN. Wie ist deine Erwartungshaltung gegenüber ausländischen Reaktionen?
Ja also Erwartungen hat jeder. Dass die Revolution schon so lange dauert, hat Vor- und Nachteile für die Demokratisierung des Landes. Du kannst nicht von heute auf morgen ein Land von einer Diktatur in eine Demokratie verwandeln. Viele verstehen die Demokratie nicht und die Rechte für Minderheiten, viele haben davon keine Vorstellungen. Dass die Leute auf die Straße gehen, hilft der Demokratisierung des Landes und ist gut für Syriens Zukunft. Es muss diesen Prozess leider geben.

War der Konflikt / die Revolution die einzige Möglichkeit, etwas zu ändern?
Man hätte früher was machen können, also vor allem das Ausland. Bis jetzt haben sie nichts gemacht. Sie unterstützen zwar diese Gruppen, die Revolutionäre, aber sie wollen immer einen Abstand halten und das ist schlecht. Ohne internationale Beobachtung oder Kontrolle wird viel schief gehen. Wenn Syrien irgendwann wie der Iran wird oder wie Afghanistan vor 10 Jahren, dann …
Diese Länder produzieren auch weiter Probleme und exportieren sie in die Nachbarländer. Ich glaube für dieinternationale Gemeinschaft wäre es auch besser, wenn die meisten Krisenländer wirtschaftlich stabiler wären. Man sieht, dass die Gewalt auch nach Europa kommt, ebenso der radikale Islam. Es gibt immer wieder terroristische Anschläge. Das müssen die entwickelten Staaten berücksichtigen.

Was glaubst du könnte es für ein Ende geben nach dem bisherigen Verlauf des Konfliktes?
Natürlich wird das Regime fallen. Die Frage ist nur, wann und auf welche Art und Weise. Vielleicht spaltet sich Syrien auf in mehrere Regionen verschiedener Volksgruppen. Föderalismus wäre sicherlich die beste Lösung. Aber es wird lange dauern.

Gehen wir von folgendem Szenario aus: Der Konflikt ist beendet und ein neues System wird aufgebaut. Wird es maßgeblich sein, wie die anderen Länder darauf einwirken?
Ja. Das ist auch der einzige Punkt, warum diese Länder sich einmischen. Die Türkei hat keinen Vorteil aus der momentanen Situation. Flüchtlinge überqueren die Grenze und das kostet Geld und es gibt Stress. Worum geht es den Nachbarländern also? Natürlich ist da ein Gedanke an die friedliche Zukunft des Landes aber sie wollen auch Kontrolle über Syrien. Aber nicht nur die Länder sondern auch die syrische Bevölkerung wird Einfluss nehmen. Wegen der Vielfalt verschiedener Ethnien gibt es keine allgemeingültige Meinung dazu. Menschen im Nordosten sind offen für amerikanische und europäische Konzepte, in der Mitte des Landes, also in Aleppo oder Hama gibt es Unterstützung für eine stärkere Islamisierung.

Kannst du dir vorstellen, einmal nach Syrien zurückzukehren?
Ich würde sehr gerne zurück nach Syrien gehen, aber nur wenn es ein „schönes Syrien“ ist. Ich möchte ein Syrien, indem man frei ist und auf das man stolz sein kann.

Das Interview führten Lea Knopf und Isabell Wutz

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