Das Zentrum für Seltene Erkrankungen forscht seit 2010 in Tübingen
Merkwürdige Symptome, unklare Diagnosen, seltene Erkrankungen — ein Fall für Dr. House? Nein. Es mag zuerst nach Fernsehserie klingen, doch damit beschäftigt sich das Zentrum für Seltene Erkrankungen in Tübingen jeden Tag.
von Christopher Glück
Herr P. stolpert, er schwankt mit geschlossenen Augen, teilweise zittert er. Er sucht seinen Hausarzt auf. Jedoch weder dieser noch ein Neurologe können eine Diagnose treffen. Trotz der Empfehlung, Stress, Belastung sowie Alkoholkonsum zu reduzieren, werden die Veränderungen stärker…
Was bedeutet „selten“?
Auch wenn dieser Fall wie ein Einzelschicksal und Herr P. wie ein Waisenkind der Medizin aussehen mag: Deutschlandweit sind mindestens drei Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen. Selten ist eine Erkrankung, wenn in der Europäischen Union nicht mehr als fünf von 10.000 Einwohnern daran leiden. Daher gibt es viele Erkrankungen, die ein einzelner niedergelassener Arzt selten oder nie zu Gesicht bekommt. Bei diesen ist er allein oft nicht im Stande, eine ausreichende Diagnose zu stellen und eine Therapieempfehlung zu geben. Bei den seltenen Erkrankungen ist eine Zusammenarbeit von Spezialisten aus verschiedenen Fachdisziplinen notwendig. Diese ärztliche Kooperation ist am Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) der Normalfall. Entstanden aus einem EU-Forschungsprojekt über neurologische Bewegungsstörungen, den Ataxien, umfasst das ZSE mittlerweile zwölf Spezialzentren, unter anderem für Augen-, Hauterkrankungen und genitale Fehlbildungen.
Um niedergelassenen Ärzten, aber auch nicht-spezialisierten Klinikärzten, Wissen über seltene Erkrankungen zu vermitteln, hat das ZSE im Jahr 2011 die Fortbildungsakademie für seltene Erkrankungen eingerichtet. Deren Ziel ist nicht, alle Ärzte zu Experten für seltene Erkrankungen zu machen. Es geht vielmehr darum, nicht-spezialisierten Ärzten einfache Signale zu erklären, die zur Erkennung von seltenen Erkrankungen verwendet werden können. Denn nur dann kann ein Arzt Patienten auch zu Ärzten mit entsprechendem Spezialwissen überweisen. Spezialwissen ist notwendig, denn seltene Erkrankungen sind komplexe, häufig genetisch verursachte Multi-Organ-Erkrankungen. So leidet zum Beispiel Herr P. an einer spinozerebelläre Ataxie. Insgesamt gibt es ca. 8.000 seltene Erkrankungen.
Meist genetische Ursachen
Interdisziplinäre Forschung wird benötigt, um entsprechendes Spezialwissen zu erlangen. „Was seltene von häufigen Erkrankungen unterscheidet, ist, dass oft wenig Wissen über sie existiert. Zudem sind sie meist genetisch verursacht“, sagt Dr. Holm Graessner, Geschäftsführer des ZSE. Um die genetischen Ursachen zu finden, kann dank neuester Technologie die DNA auf einmal entschlüsselt werden. Mit diesem Wissen entwickelt man im nächsten Schritt Zellmodelle, welche die gleiche genetische Veränderung besitzen. Anhand dieser Modelle werden beispielsweise Medikamente getestet. Wichtig ist die Zusammenarbeit mit anderen Universitätskliniken. Dies nutzt nicht nur der Forschung, sondern auch Patienten. So erfolgte eine gemeinsame Etablierung eines Lotsensystems, das Patienten und Ärzte mit entsprechender Expertise zusammenbringt.
Durch Geld aus verschiedenen Forschungstöpfen kann das ZSE Spezialambulanzen betreiben, in denen Patienten betreut werden. Zudem baut das ZSE gerade ein Fundraising auf, um mithilfe von Spenden Versorgung und Forschung weiter zu verbessern.
Einrichtungen wie das ZSE in ganz Deutschland aufzubauen und nachhaltig zu finanzieren, ist das Hauptziel des ersten Nationalen Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen. Die Bundesministerien für Gesundheit, Bildung und Forschung erstellten diesen Plan unter Mitwirken des ZSE.
„Auch wenn die Aufmerksamkeit für das Thema gestiegen ist“, so Dr. Graessner, „muss noch viel getan werden.“ Für die meisten seltenen Krankheiten gibt es noch keine medikamentöse Therapie, dennoch kann geholfen werden. Spezielle Physiotherapien können bei Ataxien wie im Fall des Herrn P. die Symptome erleichtern. Mit dieser Unterstützung wird die Lebensqualität von Waisenkindern der Medizin wie Herrn P. verbessert.