„Leben im Land von Heidi“, wie eine kanadische Freundin es stets zu bezeichnen pflegte, die ihr Auslandssemester ebenfalls in Lausanne verbrachte. Und ja, eigentlich trifft es das ganz gut: Ein Land wie im Bilderbuch – zumindest mit dem nötigen Kleingeld in der Tasche.
Von Henrike Junge
„Lausanne, wo ist das denn bitte?“ war stets die erste Frage, die mir gestellt wurde, wenn ich von meinem Auslandssemester erzählte. Diese scheinbar so unbekannte Stadt liegt in der französischen Schweiz, am wunderschönen Genfer See, direkt vor den Alpen. Ihre bei Fahrradfahrern verhasste Hanglage und die daher auf mehrere Ebenen verteilte, ungewöhnliche Architektur, die verwinkelte Altstadt, das traumhafte Seeufer und nicht zuletzt das wahrhaft atemberaubende Preisniveau machen sie zu einem außergewöhnlichen Fleck Erde.
Nach seiner Existenz musste ich fast immer die Eignung dieses Ortes für ein Auslandssemester verteidigen. „Ja, aber die Schweiz ist doch eigentlich gar kein Ausland“ folgte meist etwas vorwurfsvoll auf meine geographische Einordnung.
Was ich schon damals ahnte, weiß ich heute sicher: Dem ist nicht so. Sogar im deutschsprachigen Teil, in dem ich sprachlich manchmal größere Schwierigkeiten hatte als im französischen, fühlt man sich mit seinem deutschen Pass als Ausländer. In der französischen Schweiz kommen die Einflüsse der ‚wirklich‘ anderen Sprache sowie der französischen Nachbarn hinzu, was dieser Gegend ein ganz besonderes Flair verleiht.
Die kulturellen Unterschiede der einzelnen Sprachregionen sind ohnehin beachtlich. Nicht selten wundert man sich, wie es möglich ist, dass diese so verschiedenen Teile mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Landschaften und Traditionen eine – wenn auch kleine – Nation bilden können. Umso paradoxer, dass trotz dieser Multikulturalität so viele Schweizer eine derart große Angst vor allem Fremden haben, das sich in ihre Nähe bewegt und sich dort niederzulassen droht.
Ansonsten ist die Mentalität der Schweizer durch eine angenehme Gelassenheit geprägt: Die Menschen lassen sich, angefangen vom Sprechen bis hin zum Einkaufen, bei allem etwas mehr Zeit. So kann es an der Kasse von Migros drei- bis viermal so lange dauern wie in einem deutschen Aldi.
Eine Lebenseinstellung, die man schnell zu schätzen lernt und die ich mir auf der Heimfahrt an Weihnachten im deutschen ICE sehnlichst zurückgewünscht habe. Generell muss ich zugeben, die Schweizer sind häufig einfach ein bisschen freundlicher als viele Deutsche. Ob Busfahrer, Mitreisender oder Professor. Das „Bonjour Mademoiselle“ zu Beginn und das „Bonne journée“ zum Abschluss einer Begegnung dürfen nie fehlen und sind in den meisten Fällen auch tatsächlich ernst gemeint.
Genau wie die Stadt liegt auch die Université de Lausanne direkt am Genfer See. Im September konnte ich zwischen den Vorlesungen noch ein paar mal in den Lac Léman hüpfen – Luxus pur! Und von der Bibliothek aus hat man – wenn man den Blick vom Meer der Macs hebt, die sich dort in den Lesesälen inklusive ihrer studentischen Besitzer tummeln – einen wirklich exklusiven und zuweilen sehr ablenkenden Ausblick.
Das Studium an der Universität hat auch über die Grenzen der Schweiz hinaus einen sehr guten Ruf. Für einen Austauschstudenten ist die bestmögliche Nutzung der universitären Angebote allerdings nicht immer ganz so leicht. Zu den für ein Auslandssemester typischen Ablenkungsfaktoren wie der anderen Sprache und Kultur, der vielen neuen Menschen sowie diverser Partys und Ausflüge, kommt in Lausanne noch die außergewöhnliche Lage der Uni hinzu.
Wenn man sich nämlich zwischen zwei Vorlesungen mit einem erstklassigen Kaffee aus einer der vielen Cafeterien der Uni nach draußen in die Herbstsonne begibt und seinen Blick über die grünen Wiesen zwischen den Gebäuden, die darauf grasenden Schafe, den See und die Alpengipfel in der Ferne schweifen lässt, dann will man eben doch hauptsächlich zwei Dinge: nicht in die Vorlesung, die gleich beginnt, und vor allem nicht mehr so schnell weg von hier.