Eine Bestandsaufnahme der spanischen Protestbewegung – mit dem Rucksack
Samstagabend, März 2012. Ein Parkplatz vor einem Freiburger Hotel. Hier stehe ich in der Abenddämmerung, mit zwei Rucksäcken und einer Menge Neugier im Gepäck. Womöglich ist der Weg bereits das Ziel, denke ich angesichts der turbulenten Fahrt gen Süden, auf der ich unter anderem Bekanntschaft mit einem schwäbischen Zahnarzt, einem 17-jährigen Ex-Drogendealer und zwei 90-jährigen Franzosen mache. Doch mein wahres Abenteuer wartet in Spanien…
von Rena Föhr
…jenem Land, das nun nicht mehr als Urlaubsparadies, sondern als Wackelkandidat in der Eurokrise bekannt ist. Die Protestwelle, die vor einem Jahr ausbrach, flimmerte auch über deutsche Bildschirme: Zehntausende, vor allem junge Menschen, besetzten die größten öffentlichen Plätze, schlugen dort wochenlang ihre Zelte auf. Mit Slogans wie „Echte Demokratie JETZT!“, „Wir empören uns!“ und „Nimm den Platz ein!“ wurde die Bewegung „15M“ bekannt, die nach ihrem Anfangsdatum benannt wurde. Doch dann verschwanden die Camps und mit ihnen die Kameras der internationalen Medien. War das schon alles oder findet die Bewegung nun im Verborgenen statt? Wer genau steckt hinter ihr und was sind ihre Ziele?
Die Chance, diesen Fragen vor Ort selbst nachzugehen, gibt mir die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa mit einem Reisestipendium von 550 Euro – Bedingung: Ein zehnseitiger Bericht und Belege. Das niedrige Budget stört mich nicht, denn dadurch bin ich zum Glück gezwungen, Land und Leute durch Couchsurfing noch näher kennenzulernen.
Barcelona: Tourismus- und Protest-Hochburg
Meine erste Station ist Barcelona. Ich komme bei einem Schweden unter, von dessen Sofa aus ich das Wahrzeichen der Metropole sehe: Die Sagrada Familia, das ewig unvollendete Lebenswerk von Antoni Gaudi. Die experimentellen Werke des Architekten kann man an vielen Ecken entdecken. In seinem Parque Güell lasse ich mich auf bunten Mosaiken nieder und genieße den Frühling.
Aber nicht lange, denn mein erster Termin steht bereits an. Bei der Kontaktaufnahme zu Aktivisten habe ich mich auf virtuelle Wege verlassen. Diese führen mich nun ins reale Wohnzimmer von Maria José, einer jungen Frau mit asymmetrischem Haarschnitt und arabischem Tattoo. Sie arbeitet in einer NGO, ist also von der hohen Arbeitslosigkeit nicht betroffen; der Zustand ihres Landes bereitet ihr dennoch Sorgen. „Alle paar Jahre ein Kreuz machen, das verstehe ich nicht unter Demokratie“, stellt sie fest. Erst recht nicht, wenn viele Politiker unter Korruptionsverdacht stünden und bei Auszählungen Manipulationsverdacht aufkäme. Stattdessen fordert sie direkte Demokratie. Und wie hat sie die Zeit des Zeltens erlebt? „Ich habe nie dort geschlafen, da ich ja täglich zur Arbeit musste. Direkt danach kam ich zum Camp, brachte Essen und nahm an Diskussionsrunden und Workshops teil“. Man müsse sich die Camps wie richtige kleine Städte vorstellen, mit Arbeitsgruppen für alles, was es im täglichen Leben eben braucht.
Inzwischen hingegen hat sich die Bewegung dezentralisiert. In Marias Viertel trifft man sich mehrmals pro Woche, um Aktionen zu planen: Zum Beispiel eine Demonstration für kleinere Schulklassen oder gegen den sofortigen Rauswurf von Familien aus Wohnungen, wenn sie ihre Hypothek nicht abbezahlen können. Kurz später trudeln ihre Freundinnen ein – von 22 bis Mitte 30, manche noch im Studium, andere mitten im Arbeitsleben – und plappern lebhaft drauf los. Und zwar nicht etwa über Männer oder Mode, sondern über anstehende Protestaktionen.
Wenige Tage später sitze ich in einem kleinen Kombi mit zwei Spaniern, einem Franzosen und einem Hund: Fahrt nach Valencia.
Engagement per Motorrad
Diese schöne Küstenstadt lerne ich bald darauf in allen Facetten kennen, vor allem dank dem Sprecher der Ortsgruppe „Echte Demokratie JETZT“, der mich gentlemanlike ins Café einlädt. „In der Bewegung sind nicht nur junge Leute aktiv. Wie du ja siehst!“, lacht Francesc, ein gut gekleideter Herr Anfang 50. Auch er übernachtete nicht im Camp und hatte dennoch eine tragende Rolle: „Da sitzen Tausende Leute beisammen, versuchen alle miteinander zu diskutieren und Pläne zu entwickeln. Das zehrt an den Kräften, da gibt es leicht Streit. Da konnte ich, etwas älter und ruhiger, oftmals vermitteln.“
Mit seinem Motorrad nimmt mich Fran-cesc in den folgenden Tagen zu mehreren Versammlungen örtlicher Aktionsgruppen mit – und entdeckt dabei verborgene Fähigkeiten als Reiseführer. So brausen wir abends vorbei an mittelalterlichen Türmen, der futuristischen „Ciudad de las Artes y las Ciencias“ („Stadt der Künste und Wissenschaften“), gelangen schließlich zum Hafen und einem breiten, weichen Strand. Dort würde ich gern länger verweilen, aber bald mache ich mich auf in Richtung Hauptstadt.
In Madrid fing alles an
Diese ist auch bekannt für ihre Prachtstraßen, Museen und Flamenco, aber auch dafür, dass sich dort am 15. Mai 2011 die Protestbewegung entfesselte. Meine Gastgeber sind ein kolumbianisches Geschwisterpaar Mitte 40 und ein deutscher Student namens Christian. Über ihn lerne ich die 21-jährige Übersetzungsstudentin Emma kennen – und bekomme eine ernüchternde Meinung zu hören.
„Es gab eine Dynamik voller Träume und Hoffnungen“, erzählt sie. „Doch dann begannen die Leute untereinander zu streiten. Einzelne spielten sich in den Vordergrund, es gab endlose Diskussionen ohne Ergebnisse. Was gut begann, hat mich letztlich enttäuscht. Wie stehte es um ihren Veränderungswillen?
„Naja – es müsste sich alles ändern! Das ganze System ist falsch!“ Vielleicht sind vor allem ganz junge Menschen so idealistisch, dass sie sich mit kleinen Fortschritten nicht gedulden – und deshalb weniger häufig in der jetzigen Bewegung vertreten?
Daniel, Mathematikstudent, ist dafür ein Gegenbeispiel. „Ich war am 15. Mai 2011 noch in den USA, saß aber wie gebannt vor dem Bildschirm und twitterte wie ein Verrückter. Als ich eine Woche später nach Hause kam, packte ich meinen Rucksack und machte mich auf dem Weg zur Plaza Puerta del Sol, um dort zu zelten.“ Auch heute ist er in der Hochschulgruppe, die aus dieser Zeit entstand,
aktiv, wenngleich er weniger konkrete Erfolge als vielmehr eine Sensibilisierung und erhöhten Diskussionsbedarf der Öffentlichkeit bemerkt. Ob Daniels eigene Zukunft in Spanien liegt, ist allerdings ungewiss. Seine Arbeitschancen sind in anderen Ländern erheblich besser. So geht es eigentlich allen Studenten, die ich treffe. Auswandern gilt nicht als romantischer Traum, sondern als einziger Ausweg. „Arbeit? Gibt‘s hier nicht für mich!“, winken sie bei Nachfrage resigniert ab.
Kaum in Worte zu fassen
Drei Wochen später stehe ich wieder auf der Plaza de Catalunya in Barcelona. Und vor dem Rätsel, wie ich die 15M-Bewegung in wenige Seiten pressen soll. Nicht, weil sie inhaltsleer wäre, sondern weil sie, ganz im Gegenteil, sehr vielfältig ist. Die Welle der Solidarität, die sich gebildet hat, berührt und reißt mit. Die generellen Strukturen bestehen zwar fort, doch im Kleinen verbuchen die 15M-Leute einige Erfolge. Was die Politik nicht liefert, nehmen sie oftmals einfach selbst in die Hand – wie zum Beispiel der ehemalige Rechtsanwalt Pablo bei der Konstruktion eines Sozialzentrums in einem leerstehenden, besetzten Haus oder die 35-jährige Inma mit Videoprojekten und Informationstagen zu Umweltschutz. Sie sind diejenigen, die Hoffnung behalten, die füreinander und für ihr Land da sind. Oder, wie sie selbst es schlichtweg ausdrücken: „De la indignación a la acción“. „Von der Empörung zur Tat“.