Bunt und laut

Vielfalt der Tübinger Weststadt

Der Student ist ein Gewohnheitstier. Er bewegt sich gerne in bekannten Sphären und verlässt diese auch in der Freizeit nur ungern. Seit meinem Start in Tübingen beschränkt sich das Spektrum meiner Aufenthaltsorte auf Universität, Wohnheim, Sportplatz und Innenstadt. Es ist wieder an der Zeit, einen Stadtteil abzuklappern und ihn dem Rest der sesshaften Studentenschaft näherzubringen. Mit dem Fahrrad durch die Weststadt – ein Erfahrungsbericht.
von Lea Knopf

An der Tankstelle gibt es LKW für 1,20 Euro. Während der Absatz des Leberkäsweckles im Shop floriert, donnern nebenan Sattelzüge über die B28. Es ist heiß, die Luft flimmert. Start für eine Radtour durch die Weststadt.
Auch einige Meter weiter in der Rappstraße, wo Kinderstimmen aus dem Garten eines Gemeindehauses dringen, ist der Lärm nah. Eingekesselt zwischen Verkehrsmassen und Baustellenbetrieb, der in Kürze neuen Wohnraum schafft, herrscht friedliche Familienidylle. Ich höre Vögel zwitschern. Bunte Fensterläden und frisch gestrichene Häuserfassaden sorgen für ein farbenfrohes Frühsommer-Spektakel.
Parallel zur Umgehungsstraße, die unaufhörlich dröhnende Kraftfahrzeuge ins Herz der Stadt und die grüne Vorort-Lunge pumpt, regiert der Alltag der Weststadt-Kultur. Beim Bäcker trifft man den Querschnitt der Gesellschaft – Senioren, Studenten und Familien leben hier in Nachbarschaft.
Die Karte der „Marquardtei“ verspricht „Fleischküchle mit Kohlrabigemüse“, vor dem Supermarkt nebenan sammeln sich Fahrräder, an denen der Zahn der Zeit nagt: Studenten auf Nahrungsmittel-Beutezug. Die Atmosphäre ist lebhaft und vielfältig, ruhig und unbeeindruckt zugleich.
Doch der Reiz der Weststadt hat seinen Preis. Immer mehr Freiraum wird zugemauert, sodass bereits weite Teile der Hanglage wohntechnisch erschlossen sind. Mehrgliedrige Neubauten prägen die Straßenzüge am unteren Schnarrenberg. Die Ruhe in zweiter Reihe wird von Dachdeckern gestört, die gerade für die Erweiterung des Mehrparteien-Wohnsystems sorgen. Auch wenn die Luft an einem schwül-heißen Sommertag zum Stehen kommt: Hier bewegt sich viel.
20m² bieten Anne, Johannes und Martin im Internet für 335 € an. Sie schwärmen von der Busanbindung, REWE und ALDI seien nur „einen Katzensprung entfernt“. Auf Ähnliches stößt man in anderen weststädtischen WG-Annoncen. Ob Paula, Randolph oder Kathrin, David und Sven. Es wird viele geben, die sich um ihre kostbaren Angebote streiten.
Zwischen Herrenberger Straße und Schlossberg gelange ich in die Hochburg der Gewerbetreibenden. Möbel, Autos, Bauunternehmen, in der Nachbarschaft das Kinderhaus Weststadt. In dieser tristen Gegend am Stadtrand sorgt ein Gelände für Aufsehen: Bei den kommunalen Servicebetrieben schillern Müllabfuhr- und Reinigungsfahrzeuge in grellem Orange vor einer grauen Halle.
Am Ende der Sindelfinger Straße treten zunächst Wohngebäude im Kasernenstil in mein Blickfeld, bevor die Stadt in Feld und Wiesen mündet.
Ich mache kehrt und fahre Richtung Innenstadt. Ein Bahnhofsgebäude säumt den Weg. Tübingen Weststadt hat mit den Glanzzeiten des Zugverkehrs anscheinend abgeschlossen, zwei Mal stündlich bedient ein Regionalexpress die Strecke nach Herrenberg und Plochingen. Statt um einen Schalterplatz kämpft man hier zu Stoßzeiten um die Hoheit über den Automaten, Reiseberatung Fehlanzeige. Anstelle dessen prosperiert die Gastronomie. In unmittelbarer Nähe zu den Gleisen trifft moderne Architektur auf die Überreste einer Arbeitersiedlung: Beherrschend ist sandfarbener Beton. Staub einer Baustelle am Schnittpunkt von Rheinlandstraße und Schleifmühleweg schiebt sich durch die Straße. Mein Gehörgang schreit nach Ruhe.
Im ansässigen Einkaufszentrum können sich Nachtschwärmer zu später Stunde an den langen Öffnungszeiten des Supermarktes erfreuen. Zwischen Montag und Samstag, 8 bis 24 Uhr.
Zwei rote Baukräne ragen in der Ferne gen Himmel.
Mittagszeit, Tübingen ist auf den Beinen. Ein Spaziergang, Eis auf die Faust, die Seele baumeln lassen. Fahrrad fahren. Schwärme der zweirädrigen Pendler schießen aus einem Loch im Schlossberg. Der Fahrradtunnel, stimmungsmäßig versackt im tiefsten Winter. Kahle Wände und zugige Kälte unterdrücken für einige Sekunden meine Sommergefühle. In die Hektik der rastlosen Radler dringt virtuoses Geigenspiel. Ein Südländer präsentiert die Dauerbrenner klassischer Musik, während immer mehr Rücklichter in der Dunkelheit verschwinden. Die nächsten Sonnenstrahlen erlauben einen Blick auf den Neckar, seine Insel und prächtige Altbauten zur rechten Seite. Der Weg führt mich Richtung Hirschau. Villen, Natur und ich bin wieder an der Schnellstraße angelangt.
Ich wähne mich nicht in einer altehrwürdigen Universitätsstadt mitten in Schwaben, sondern an einem Verkehrsknotenpunkt im Ruhrgebiet. Ich stehe über der Straße und sie ist trotzdem Herr über mich. Abgase füllen die Luft, Krach prallt auf Lärmschutzwände und die Ausläufer des Schlossbergs. Raus aus der Belastungszone, ein paar Meter entspannt rollen lassen. Schon an der nächsten Weggabelung werden meine Hörnerven wieder strapaziert. Ich frage mich, ob ich mittlerweile einen Tinnitus bekommen habe, doch es ist nur eine private Kleinbaustelle, von der aus sich die Kreissäge in sensible Passantenohren einnistet.
Mein Ziel ist nun noch 0,9 km entfernt, ich möchte auch in diesem Teil der Weststadt bis an den Rand vordringen. Auf meinem Weg zum Campingplatz, der die Siedlung beschließt, durchfahre ich sämtliche architektonische Epochen. Trend und Notwendigkeit haben ihre Spuren hinterlassen. Auf schmucke Altbauten folgen Wohnanlagen im 70er Jahre Baustil. Etwas weiter leuchten helle Wohnklötze mit Grasdach in der Sonne. Sie sind modern und sauber, es ist ruhig. Auch die Campinganlage wirkt einladend. An Waldrand, Weststadtende und dem Ufer des Neckars bietet sie Natur pur, grün ist es hier.
Um auf die andere Neckarseite zu kommen, fahre ich ein Stück zurück Richtung Stadtmitte. Ein älterer Herr steckt gerade seinen Kopf durch die Reste des Grundstückgrüns, das er mit seiner Heckenschere bearbeitet.
Der Neckarradweg, der Tübingen mit Hirschau und Rottenburg verbindet, ist bevölkert. Ich begegne zwei jungen Damen, die das Tübinger Freibad ansteuern. Andere frönen ihrem Sportdrang oder nutzen das gute Wetter, um dem Hund eine Runde Auslauf zu gewähren. Während neben mir Wassersportler Zug um Zug zum Stadtzentrum vordringen, passiere ich die Paul-Horn-Arena, Heimat des Basketballteams Walter Tigers. Ein letztes Mal nähere ich mich dem Verkehrsmonster, das auf diesem Abschnitt Hegelstraße heißt.
Mit Erreichen der Neckarinsel endet meine Weststadt-Fahrrad-Tour. Ich habe ein für mich unbekanntes Terrain befahren. Es war interessant, abwechslungsreich und auch geräuschintensiv. Bunt und laut. Falls es eine Wiederholung geben sollte, werde ich sie an einem Wintermorgen antreten. Ohne Baustellen, viel Verkehr und Gefühlsverzerrung im Fahrradtunnel.

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