In seinem Vortrag über die russische Protestkultur erklärt Mischa Garbowitsch die Strukturen des Protests, warum Know-How aus dem Westen eher abgelehnt wird, was Spielzeugbagger mit Systemkritik zu tun haben und warum Moskau Stuttgart manchmal näher ist, als man denkt.
Ich laufe über den Holzmarkt hin zur Alten Aula in der Münzgasse. Vor den noch unaufgebauten Ständen des Schokoladenmarktes stehen Menschen und drücken mir Flyer in die Hand. Eigentlich sollte es ja hier um den Vortrag von Herrn Gabowitsch gehen, aber indirekt haben die 10 Leute der Montagsdemo ja doch auch was damit zu tun. Protestieren die Deutschen hier gegen soziale Kürzungen und für mehr Verständnis für Herrn Putin, eint ihre russischen Pendants genau das Gegenteil. So sei dem sozialen Protest in Russland laut Gabowitsch vor allem eins gemeinsam, die Auflehnung gegen den Staat und die Regierung, namentlich Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Putin kaputt?
Und darum ging es im Vortrag am Montag Abend. Der Sonderforschungsbereich 923 – Bedrohte Ordnungen hatte eingeladen zum Vortrag und anschließender Diskussion über „Protest, Neugier und Stadtraum in Russland heute“. Viel beachtet waren die Proteste auf dem Maidan in Kiew Ende 2013 und Anfang 2014, aber was der Öffentlichkeit weniger bekannt ist, auch im großen Nachbarland gab es und gibt es Proteste. Nach den Parlamentswahlen 2011 kam es landesweit zu Demonstrationen gegen mutmaßliche Wahlfälschung, welche bleibende Strukturen geschaffen haben. Der Berliner Soziologe und Zeithistoriker Mischa Gabowitsch hat über den Protest nun ein Buch mit dem vielsagenden Namen „Putin kaputt?“ geschrieben. Die Formen des Protests erläutert Gabowitsch vor gut 70 Besuchern in der Alten Aula. Im Sommer noch hatte ein Vortrag über den Maidan und die aktuelle Lage in der Ukraine zwar mehr Besucher angelockt und zu heftigen Diskussionen zwischen den Veranstaltern und mehreren „Putin-Verstehern“ geführt, jedoch war der Vortrag am Montag Abend nicht weniger interessant. Die Montagsdemonstranten blieben dieses Mal allerdings keine fünfzig Meter weiter auf dem Holzmarkt und so war die Zuhörerschaft einigermaßen unter sich.
Gemeinsamkeiten zwischen Stuttgart und Moskau
Im Vortrag selbst erklärt Gabowitsch wie sich aus lokal begrenzten Protesten gegen staatliche Bauvorhaben regionale Bewegungen formierten. Aus der Diskussion über die Forderungen des Baustopps entstand so ein Verständnis und Kritik am System und der Politik der Regierung. Wer hier möglicherweise Parallelen zur jüngsten schwäbischen Geschichte sieht, liegt nicht ganz falsch, allerdings auch nicht ganz richtig. Auf die Nachfrage einer Zuhörerin ob sich aus den Protestbewegungen denn auch Parteien bildeten, wie in Deutschland der 1980er Jahre die Grünen, erklärt Gabowitsch: „Bei den Protesten gegen die Wahlfälschungen 2011 gab es Plakate auf denen stand: ‚ich habe nicht diese Blödmänner gewählt, sondern die Anderen’. Politik und Parteien sind in Russland etwas schmutziges, mit dem Viele nichts zu tun haben wollen.“. Auch eine Reise durch ganz Russland zwischen den Protestbewegungen scheiterte am Unwillen der Teilnehmer sich in größerer Form zu organisieren. Nur demokratisch orientiert seien die lokalen Proteste auch nicht, wie Gabowitsch unterstreicht, es gebe auch Nazis die mit Fahnen im Wald joggen gehen um ihren Körperkult zu pflegen und die Nähe zur Natur zu suchen.
„Es weiß doch sowieso jeder warum ich hier bin“
Generell täten sich die Bewegungen schwer sich westliches Know-how in Sachen Protest und Protestkultur anzueignen, da man kritisch gegenüber den USA stehe. Ein Bild von den Maidan-Protesten stehe daher sinnbildlich für die Organisationsformen der Kundgebungen. Zu sehen ist darauf ein Mann mit einem weißen unbeschriebenen Plakat auf einem Platz umgeben von Polizisten. Laut Gabowitsch beziehe sich dies auf einen alten russischen Witz, bei dem ein Mann eben auch mit einem leeren Plakat zum demonstrieren gehe und auf die Frage warum nichts auf dem Plakat steht antwortet: „Es weiß doch sowieso jeder warum ich hier bin.“. Soll heißen: Die Proteste in Russland bleiben lokal begrenzt, und es kommt, wer persönlich betroffen ist.
Spielzeugbagger und Systemkritiker
Kreativ sei man auch in der Wahl der Mittel, so kam es schon zu Demonstrationen, in denen Spielzeugbagger mit Spruchbändern versehen auf die Straße gestellt wurden. Der anrückenden Polizei bliebe daraufhin nur zwei Möglichkeiten, entweder sich der demütigenden Beschäftigung hinzugeben Spielzeug zu beschlagnahmen, oder unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Inzwischen sei allerdings auch dies gesetzlich geregelt, erzählt Gabowitsch. Generell sei das politische System Russlands recht gut darin die Opposition einzubeziehen, oder Spitzenpolitiker ganz einfach zu kaufen. So mancher Oppositioneller Meinungsmacher sei schon in gut bezahlter Stellung in Moskau wieder aufgetaucht. Darüber hinaus sei es seit sowjetischer Zeit gang und gebe dem Präsidenten Briefe mit Beschwerden zu schreiben, und die würden, zu zehntausenden, auch beantwortet.
Ob das ein demokratisch legitimiertes politisches System ersetzt finde ich fraglich, und so einiges scheint mir in Russland doch verbesserungswürdig, als ich auf meinem Heimweg über den Holzmarkt an den Resten der Montagsdemonstration vorbei laufe…