Am gestrigen Dienstag durfte die Universität Tübingen einen ehrwürdigen Gast begrüßen: Joachim Gauck. Der Bundespräsident a.D. bekam für sein „unbeirrtes Engagement für Freiheit und Toleranz“ den Leopold Lucas-Preis der Evangelischen Fakultät verliehen – und hielt ein Plädoyer über die (destruktive) Kraft von Kränkungen.
Wenn die Universität Tübingen eine Persönlichkeit wie Joachim Gauck einlädt, ist der Festsaal der Neuen Aula mit Menschen aller Altersklassen gefüllt, aber nicht brechend voll. Joachim Gauck erhielt den Leopold Lucas-Preis 2017, der bereits Persönlichkeiten wie Karl Popper, den Dalai-Lama oder Richard von Weizsäcker ehrte. Verliehen wurde der Preis für den Einsatz zur Verbreitung des Toleranzgedankens oder der Völkerverständigung. Zudem erhielt der Philosoph Dahan Fan den Nachwuchswissenschaftlerpreis.
„Kränkungen gehören unabdingbar und von Anfang an zum Menschsein dazu.“
Gauck nutzte seine Dankesrede einerseits, um Franz D. Lucas zu gedenken. Franz D. Lucas ist Ehrensenator von Tübingen und hat den Preis zu Ehren seines jüdischen Vaters ins Lebens gerufen. Außerdem widmete sich Gauck dem Phänomen der Kränkung, das er nicht nur im Privaten, sondern auch in Politik und Gesellschaft für bedeutsam hält.
Dabei geht es ihm nicht nur um Kränkung selbst, sondern vor allem um den Umgang damit. Das Ende des Sowjetreiches und der nachträgliche Umgang damit durch Wladimir Putin – oder auch Recep Tayyip Erdogan in der Türkei – seien Beispiele für den Umgang mit Kränkung, die ein geschrumpftes Selbstbewusstsein zu kompensieren versuchten. Diese „Allmachtsphantasien“ können allerdings kein Umgang für die Zukunft sein.
„Kränkungen und Niederlagen bieten auch die Chance des Lernens.“
Vielmehr sollte man „das Selbstbewusstsein in möglichst allen Individuen stärken“, das durch den gesellschaftlichen Fortschritt teilweise angeknackst wurde. Einerseits biete dieser Fortschritt mehr Gerechtigkeitsgewinn auch im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit. Andererseits führe dieser auch zu einer problematischen Spirale: „zur Konkurrenz unter den Gekränkten“, durch die sich auch Mehrheiten übergangen fühlen.
„Ich kann mir keine Gesellschaft vorstellen, die imstande wäre, jede Art von Unterschied auszugleichen.“
Joachim Gauck ist ein Intellektueller, der weiß, wovon er in diesem Bereich spricht: unter anderem durch seine jahrzehntelange Arbeit als Pastor und sein Engagement im Bereich des kirchlichen und öffentlichen Widerstands gegen die SED-Diktatur wurde er mit diversen Preisen ausgezeichnet. Dennoch könnte man kritisieren, dass es sich der Bundespräsident a.D. etwas einfach macht. Mit seinen Thesen macht er sich wenig angreifbar und eine direkte Umsetzung seiner Ideen im Alltag lässt er weitestgehend offen. Dennoch ist festzuhalten, dass Joachim Gauck gerade in Zeiten von gerne verwendeten Begriffen wie Populismus und fake news wichtige Punkte anspricht; könnte doch die Stärkung des selbstbewussten Individuums ein wichtiger Schritt sein, auch Bürger wiederzugewinnen, die sich in jedwedem Sinne vergessen oder missverstanden fühlen.
Fotos: Marko Knab