In Brasilien hat zu Jahresbeginn die neue Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro ihre Arbeit aufgenommen. Wie sich die Lage für indigene Völker seitdem verschlechtert hat, berichtete Ursel Habermann am Donnerstagabend in einem Vortrag im Rahmen des Forums Pensamiento Latinoamericano.
„Es ist acht Uhr.“ Mit diesen Worten begrüßte Dipl. Geografin Ursel Habermann die rund 25 Zuhörer*innen, die sich am Donnerstagabend im Verfügungsgebäude versammelt hatten und begann ihren Vortrag dazu passend mit einem kurzen Ausschnitt aus der Tagesschau. Das Video zeigte die Proteste der indigenen Völker Brasiliens im April gegen die massive Regenwaldabholzung und die Politik der neuen Regierung. Durch die Abholzungen verlieren die Indigenen ihre Lebensräume und damit auch ihre Traditionen. Um genau diesen Konflikt ging es Ursel Habermann in ihrem Vortrag.
Die Geografin, die eigentlich im Bereich der Raumordnung im Regierungspräsidium arbeitet, reist seit mehreren Jahren immer wieder privat nach Südamerika und hat dort viele Kontakte geknüpft, unter anderem zu verschiedenen Aktivist*innen in Brasilien. Im größten südamerikanischen Land gibt es über 300 unterschiedliche indigene Völker. Einige leben nach wie vor völlig abgeschieden im Amazonas-Dschungel, die meisten aber in Reservaten, wo der Kontakt zur „modernen“ Welt unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
Schwierige politische Situation
Brasiliens Indigene sind Schwierigkeiten gewohnt. Auch unter einigen vorherigen Regierungen mussten sie um ihre Rechte und ihr Land kämpfen. Unter Bolsonaro haben sich die Probleme jedoch rapide verschärft: Die Indigenenbehörde FUNAI wurde dem Ministerium für Frauen und Kinder einverleibt, die Einteilung der Indigenengebiete unterliegt nun dem Agrarministerium. Dessen vorsitzende Ministerin, Tereza Cristina, wird auch als „Muse des Agrar-Gifts“ bezeichnet, weil sie die Interessen der Agrar-Lobby vertrete.
Damit vertritt sie die gleiche Linie wie Präsident Bolsonaro selbst, der es laut Habermann in etwa so formuliert: „Wir wollen den Indigenen helfen, ihre Rückständigkeit abzubauen und sich als vollwertige Brasilianer zu etablieren“. Erreichen will er das, indem er das Land der Indigenen zum Acker- und Bergbau freigibt. Die jetzigen Bewohner könnten durch die Verpachtung des Landes Geld verdienen und sich damit ein „normales“ Leben finanzieren, so der Präsident. Dass er dabei keine Rücksicht auf die Wünsche und die Traditionen der Indigenen nimmt, sagt er nicht. „Wenn wir alle so leben würden wie die Indigenen, hätten wir keine Probleme, zum Beispiel mit dem Klimawandel. Und so eine Lebensweise soll zerstört werden? Das ist einfach sehr bitter“, so Habermann.
Zum Glück gibt es nationale und internationale NGOs, die sich für die Rechte der indigenen Völker einsetzen. So zum Beispiel CIMI (Conselho Indigenista Misionário). Die katholische Organisation wurde bereits 1972 gegründet, inzwischen engagieren sich über 300 haupt- und ehrenamtliche Mitglieder für die indigene Bevölkerung. Unter anderem veröffentlich CIMI jedes Jahr eine Publikation, in der detaillierte Gewalttaten jeglicher Art gegenüber Indigenen aufgelistet werden. Für ihr Engagement erhielt die Organisation 2009 einen Menschenrechtspreis vergeben von der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Zu Besuch bei den Bororo
Habermann berichtete von einer Reise, die sie mit einer schwedischen Journalistin und einem CIMI-Mitarbeiter zu einem Indigenenstamm machen durfte – eine außergewöhnliche Erfahrung. „Die Siedlung der Bororo liegt im Bundesstaat Mato Grosso nahe der Großstadt Rondonópolis. Sie hat ca. 400 Einwohner“, erklärte Habermann. Im Dorf gebe es einen Stromanschluss, vor einigen Jahren wurde eine neue Schule gebaut. Dort lernten die Kinder des Dorfes sowohl etwas über die Traditionen ihres Stammes als auch grundlegende Allgemeinbildung – damit diejenigen, die es wollen, später auf die Universität gehen können. Am meisten beeindruckt habe sie allerdings das Gespräch mit dem Häuptling der Bororo, erzählte Habermann. „Er erklärte, dass sein Stamm im Einklang mit der Natur leben möchte, jedes noch so kleine Lebewesen, jeder Stein, jeder Fluss hat große Bedeutung.“
Aber die Dorfbewohner*innen merken, dass sich ihr Lebensraum verändert: „Im Fluss gibt es inzwischen viel weniger Fische, sie sind kleiner, und schmecken nicht mehr so gut, wie es noch vor 25 Jahren der Fall war.“ Die Indigenen führen das auf die Abwässer und die in die Flüsse geschwemmten Pestizide und Düngemittel der umliegenden Großbetriebe zurück. Mato Grosso gehört zum sogenannten Sojagürtel, wo immer mehr Regenwald für riesige Soja-Monokulturen weichen muss. Auch rund um das Dorf der Bororo gibt es riesige Plantagen, Abwässer und Pestizide landen ungefiltert im Fluss. „Der Häuptling sagte: Es ist uns egal, was der weiße Mann mit seinem Land macht, aber wir wollen auf unserem Land nach unseren Traditionen leben“, zitierte Habermann.
Zwischen Tradition und Moderne
Nicht nur die NGOs, auch die Indigenen selbst setzen sich mehr und mehr für ihre Rechte ein: Zum jährlichen Protest in Brasiliens Hauptstadt, der im Video am Anfang gezeigt wurde, kamen in diesem Jahr so viele Teilnehmer*innen aus allen Teilen des Landes wie noch nie. Indigene Aktivist*innen wie Sônia Guajajara erheben lautstark ihre Stimmen, um ihr Land und ihre Traditionen zu bewahren. Präsident Jair Bolsonaro dagegen findet: „Wir können nicht zulassen, dass Indigene weiter in ihren Reservaten wie Tiere im Zoo leben.“ Dass aus Sicht der Indigenen vielleicht er, beziehungsweise wir alle diejenigen sind, die in unseren engen Zimmern und vollen Städten wie im Zoo leben, ist ihm anscheinend noch nicht in den Sinn gekommen.
Dass es auch zwischen den Indigenen unterschiedliche Meinungen gibt, macht Ursel Habermann in der anschließenden, angeregten Diskussion klar: „Natürlich leben viele der Indigenen heute schon gewissermaßen in zwei Welten. Und natürlich gibt es auch einige, die gehen, um in der „modernen“ Welt zu leben. Und dann gibt es andere, die wieder zurückkommen. Das wichtigste sollte doch sein, was die Indigenen wollen. Und denjenigen, die nach ihren Traditionen leben wollen, sollte man nicht die Grundlage dafür – ihr Land – wegnehmen.“
Das studentische Diskussionsforum Pensamiento Latinoamericano („Lateinamerikanisches Denken“) wurde bereits in den 90er Jahren ins Leben gerufen. In diesem Semester findet zum inzwischen 29. Mal eine wöchentliche Vortragsreihe statt, bei der über diverse politische und kulturelle Themen des lateinamerikanischen Kontinents referiert und diskutiert wird. Die Vorträge finden immer donnerstags um 20 Uhr im Verfügungsgebäude (Wilhelmstr. 19) statt. Einige der Vorträge werden auf Portugiesisch oder Spanisch gehalten, können jedoch bei Bedarf ins Deutsche übersetzt werden.
Fotos: Ursel Habermann, Lisamarie Haas
Titelbild: Mídia NINJA via Flickr, CC BY-NC-SA 2.0