In dieser Woche fand die 33. Tübinger Poetik-Dozentur statt. Zu Gast waren diesmal der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård und die deutsche Schriftstellerin Judith Schalansky. In ihrem Vortrag am Mittwochabend erzählte Judith Schalansky, die mit ihrer trockenen und sachlichen Art das Publikum bezauberte, was sie mit dem Schreiben verbindet und wie sie dazu kam. Über die Entdeckung einer Leidenschaft zu Fußnoten, dem wissenschaftlichen Schreiben und dem Zusammenhang zwischen dem Schreiben und der Natur.
Schon eine dreiviertel Stunde vor Beginn der Vorlesung von Judith Schalansky, im Rahmen der diesjährigen Tübinger Poetik-Dozentur, ist der Saal in der Alten Aula gut gefüllt. Beständig strömen die Interessierten herein und füllen die Reihen, bis auch der letzte Stuhl besetzt ist. Die Ersten machen es sich auf dem Fußboden bequem, denn auch die Fensterbänke an beiden Seiten des Saals sind bereits besetzt.
Dorothee Kimmich, Professorin für Literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft und Kulturtheorie, die auch in diesem Jahr die Poetik-Dozentur ausrichtet, stellt Judith Schalansky vor. Eine Autorin, die ihre eigenen Bücher als Forschungsprojekte nur ohne Fußnoten versteht und uns zugleich daran erinnert, dass Forschungsprojekte nicht gleich trockene Lektüre bedeuten. Judith Schalanskys Bücher, so Prof. Dr. Kimmich, „erinnern uns daran, dass es so etwas wie eine Leidenschaft für Wissen gibt. Dass Neugierde ein schönes Gefühl ist. Dass so ein Forschungsprojekt wie eine Reise mit dem Finger auf der Landkarte sein kann“.
Schöne Bücher liest man gerne, weil sie schön sind
Die Bücher der Schriftstellerin vermitteln dem Leser aber nicht nur Wissen und wecken Neugierde, sie sind zudem auch schön. Denn Judith Schalansky ist nicht nur Schriftstellerin und Herausgeberin, sondern auch Buchgestalterin. Für ihr selbstgestaltetes Buch Atlas der abgelegenen Inseln erhielt sie 2009 den Preis der Stiftung Buchkunst, für das „Schönste Deutsche Buch“ des Jahres. Auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurde 2011 mit diesem Preis ausgezeichnet.
Die gemeine Stinkmorchel: Phallus impudicus
Judith Schalanskys Vortrag beginnt sachlich, mit dem Hinweis, dass wir uns aktuell im Jahr des grünen Knollenblätterpilzes befinden und das Jahr der gemeinen Stinkmorchel bevorsteht. Auch ein Pilz, zwar nicht ganz so giftig und gefährlich, wie der grüne Knollenblätterpilz, aber dennoch allein wegen seines Namens als beunruhigend einzustufen, so Judith Schalansky. Denn nicht nur das Verb „gemein“ würde auf die Unanständigkeit verweisen, die im Namen dieses Pilzes liege, man müsse auch das – als allgemein wissenschaftlich geltende System der Benennung von Arten und Gattungen – in die Betrachtung miteinbeziehen. Kurz, den bei der Erstbestimmung der Art festgehaltenen lateinischen Namen. Im Falle der Stinkmorchel: Phallus impudicus, unzüchtiger Penis. Wer bis dato noch nicht zuhörte, tat es spätestens jetzt.
Der Pilz würde nicht nur in seinem Stadium als phallusförmiges Gewächs an der Oberfläche dem männlichen Geschlechtsorgan ähneln, auch im Vorstadium, als unterirdisches „Hexenei“, weist er Ähnlichkeiten mit diesem auf, fährt Judith Schalansky trocken fort. Das Hexenei würde ungefähr der Größe eines Testikels entsprechen und soll, so erläutert sie noch im selben Satz, in Scheiben geschnitten und in Butter angebraten, wie Nüsse und Rettich schmecken.
Der Pilz und die Poetik
Judith Schalanskys ausschweifender Exkurs in die Welt der Pilze wirft Fragen auf. Ist das wirklich eine Vorlesung über Poetik und Literatur, die hier gerade stattfindet? Hört sich das Ganze doch eher nach einer Biologie-Vorlesung an. Doch ja, es handelt sich tatsächlich um eine Vorlesung über die Poetik. Judith Schalansky zeigt nämlich auch in ihrem Vortrag, worauf Frau Prof. Dr. Kimmich bereits in ihren Begrüßungsworten hingewiesen hat: nämlich dass sie Forschungsprojekte schreibt, die Neugierde wecken, für Themen, mit denen man sich sonst eher weniger auseinandersetzt.
Warum sie sich für Pilze als Einstieg in ihrem Vortrag entschieden hat, sagt sie auch. Judith Schalansky glaubt nämlich, dass Pilze viel über ihr Verständnis vom Schreiben erzählen. Sie bilden ein unsichtbares Netzwerk, indem sie sich mit anderen Lebewesen verbinden, sich vernetzen und komplexe Beziehungen eingehen. Durch parasitäres Verhalten, unterirdische wurzelartige Verflechtungen, das Verbreiten ihrer Sporen, durch Insekten, etc. Sie glaubt, dass auch wir und die Welt im Grunde pilzartig sind und das Schreiben im Idealfall verschlungene Verbindungslinien bilden sollte, wie es auch die Pilze tun.
„Bis heute erfinde ich nur im Notfall“
Judith Schalansky selbst kam zum Schreiben durch das Wälzen von Lexika in ihrer Kindheit und dem Schreiben von Gedichten, was sie als identitätsstiftend bezeichnet. Kontakt zum wissenschaftlichen Schreiben bekam sie während ihres Studiums des Kommunikationsdesigns an der Fachhochschule Potsdam. Hier entdeckte sie ihre Leidenschaft für Fußnoten. „Ich war wie elektrisiert, ich schrieb nichts lieber als Fußnoten“, sagt sie. Mit den Fußnoten habe sie ihren Schreibimpuls legitimieren können, heute sehe sie Fußnoten als Forschung.
Judith Schalansky schreibt auch heute noch wissenschaftliche Arbeiten, wie zu ihrer Zeit als Studentin. Mit dem Unterschied, dass sie heute keine Fußnoten mehr schreiben muss, wobei sie anmerkt, dass man argumentieren könne, sie schreibe heute ausschließlich Fußnoten. Die Glaubensfrage, dass Literatur aus Leben gemacht sei, hat sie schon immer ein wenig abgeschreckt. Denn über ihr eigenes Leben schreiben zu müssen, kam ihr obskur vor. Die Vorstellung, dass Literatur nichts sei, was man zu erfinden habe, aber auch nichts, das das eigene Leben vorauszusetzen habe, habe ihr selbst dabei geholfen, zu schreiben. Sie umgeht das Schreiben durch den langwierigen Prozess der intensiven Recherche und ermöglicht sich so ein Leben als Dilettantin und Privatgelehrte, die eben nicht Biologie studiert hat. Erfinden tut sie hierbei nur im Notfall.
Judith Schalansky zeigt, dass sie nicht gerne in Kategorien denkt. Es macht ihr Spaß, Analogien zwischen verschiedenen Rubriken zu finden, die auf den ersten Blick möglicherweise nicht zusammenpassen. Wie zwischen dem Pilz und der Poetik.
Fotos: Nesli Uzundal, mareverlag GmbH & Co. oHG
Ich merke ganz deutlich dass meine Tochter auf ihrem Gebiet sehr begabt ist. Der Papa ist halt nur Handwerker.
Ich merke ganz deutlich dass meine Tochter auf ihrem Gebiet sehr begabt ist. Der Papa ist halt nur Handwerker.