In jedem zweiten Haus in der Altstadt scheint schon mal ein berühmter Schriftsteller gewohnt zu haben. Doch wie genau war ihr Leben in Tübingen? Eine Übersicht in fünf Teilen. Teil 3: Außerhalb dieser Welt – Leben im Turm und Sterben im NS.
Zwei Dichter am Rande der Gesellschaft, die sich im Leben verloren hatten und am eigenen Leib erlebten, was es heißt, vor hundert oder zweihundert Jahren in die Psychiatrie zu kommen. Doch ihre Schicksale haben einen entscheidenden Unterschied.
Verengung der Lebenswelt
Friedrich Hölderlin ist ohne Zweifel einer der bekanntesten Tübinger überhaupt. Der nach ihm benannte Hölderlinturm ist längst zu einem Wahrzeichen geworden – steht er doch auch als Symbol für das Leben des „in eine innere Verborgenheit geflohenen Hölderlin“. 36 Jahre verbringt er im Turm, am Uferrand zwischen Fluss und Stadt.
Typisch für seine Zeit führt sein Weg aufgrund des Studiums nach Tübingen und ähnlich wie so viele andere Tübinger Dichter ist für seine Bildung das Stift bestimmt worden. Weiter dem Muster folgend befindet sich Hölderlin mit diesem Schicksal im Konflikt: Das äußere Bildungsziel der Theologie stimmt nicht mit seiner inneren Berufung überein. Dass er kein Jura studieren darf, klagt Hölderlin bei seinen Eltern mit dem Vorwurf: „Die Universitätsjahre sollten die vergnügtesten sein!“
Die Wirklichkeit verliert daraufhin für den jungen Hölderlin immer mehr an Raum: Das Studium – eine Enttäuschung, die politischen Hoffnungen in die Revolution – vergebens. Nach dem Abschluss geht diese Kette weiter, denn aufgrund seiner Liaison mit der Frau seines Arbeitgebers verliert Hölderlin seine Anstellung als Hofmeister. Als dann auch noch eben jene Geliebte Susette an Röteln stirbt, verliert er gänzlich den Bezug zur Realität.
Der Weg an den Abgrund und wieder zurück
Hölderlin wird gewaltsam ins Universitätsklinikum in Tübingen gebracht, sein Zustand soll zwischen Wahnsinn und Raserei geschwankt haben. 231 Tage bleibt er unter Behandlung von Prof. Autenrieth in der Abteilung für Geisteskranke der Burse und muss Zwangsjacken, Beruhigungs- und Reizmittel, sowie die berüchtigte Authenrietsche Maske über sich ergehen lassen.
Glücklicherweise nehmen Privatleute das wahnsinnige Genie bei sich auf, eben in jenem Hölderlinturm gegenüber der Burse und am Ufer des Neckars. Bis zu seinem Tode lebt er dort vor sich hin, immer wieder unterbrochen von wohlwollenden oder mitleidsvollen Besuchen. Seine Existenz nach außen ist fast nur noch von seinem wunderlichen Auftreten geprägt: Er führt Selbstgespräche, wechselt von Wutausbrüchen in stundenlanges Umhergehen in seinem Zimmer – allerdings schien er sich seines Zustandes teilweise auch deutlich bewusst zu sein, wie manche im Turm geschriebene Zeilen zeigen. Das Schreiben gab er übrigens nie auf.
Jakob van Hoddis‘ Gedicht „Weltende“ wird die „Marseillaise der expressionistischen Rebellion“ genannt – eine bedrückende Zukunftssicht.
Der Dichter, der nichts mehr ist
Verehrt wurde er als Dichter allerdings weiter, denn mehr als hundert Studenten begleiteten Hölderlins Sarg zur letzten Ruhe auf den Friedhof hinter dem Kupferbau. Anders verlief es bei Jakob van Hoddis, der eigentlich Hans Davidsohn hieß. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein anerkannter Dichter des Berliner Frühexpressionismus, findet er sich 1922 völlig am Rande der Gesellschaft und in Tübingen wieder.
Wahrgenommen wird er nur noch als „dahergelaufener Jude“ und auf Nachfragen bei Zeitzeugen fällt ihnen wieder ein: „Ghet hen se so oin, der net recht war.“ „Se“, das war die Familie von van Hoddis‘ Onkel, bei denen der Entmündigte zur Pflege untergekommen ist. In der Wilhelmstraße, gegenüber dem heutigen Brechtbau, lief alles noch reibungslos. Van Hoddis wurde als sonderlich und ungepflegt, aber ungefährlich eingestuft, und neugierig beim Herumstromern beäugt. Er sammelt Zettel und Zigarettenstummel auf der Straße und kritzelte Zeichnungen, Verse und Zahlenreihen.
Als unwert und entartet abgestuft
Der Umzug in die Sofienstraße endet allerdings im Fiasko: Sonst friedlich Tiere grüßend eskaliert ein Streit mit den Nachbarn und die Polizei weist van Hoddis nicht zwanglos in die Heil- und Nervenanstalt auf dem Föhrberg ein. Dort ist nur wenig über sein Leben bekannt. Er soll ein ruhiger und folgsamer Patient gewesen sein, doch mit den zeitgenössischen Debatten um die Minderwertigkeit von Geisteskranken und den daraus folgenden Vorschlägen zur Zwangssterilisation und Euthanasie ist klar, dass sein Schicksal kein gutes Ende nehmen kann.
In der NS-Zeit wird das Leben von Psychiatriepatienten endgültig als „entartet“ eingestuft und Jakob van Hoddis wird der NS-Tötungsmaschinerie zugeführt: Er stirbt im Wahn um die Vernichtung von „unwertem“ Leben in Polen, wahrscheinlich im Vernichtungslager Sobibor. Die Ahnung von bösen Schatten in der Zukunft, die sich oftmals in seinen Versen findet, wird zu seinem persönlichen Schicksal.
Hölderlin und van Hoddis – Aus der Welt gefallen beschreibt wohl ganz gut ihren Lebensverlauf und ihr Verhalten in Tübingen. Bei Privatleuten gut aufgehoben und für ihr kindlich-zeremonielles Verhalten belächelt, beschließt sich ihr Schicksal mit dem Stempel des Wahnsinns, der ihnen durch die Aufenthalte in den damaligen Anstalten aufgedrückt wird. Hölderlin wird zwar weiter verehrt, als genialer Dichter Tübingens, doch van Hoddis wird letztendlich zu einem fast in Vergessenheit geratenen Opfer des sinnlosen Tötens im zweiten Weltkrieg.
- Teil: Goethe und Schiller bei Cotta
- Teil: Mörike der Träumer und die Hausfrau Wildermuth
- Teil: Die Verrückten Hölderlin und van Hoddis
- Teil: Das Genie und der Politiker – Hauff und Uhland
- Teil: In Tübingen, um sich zu finden: Hesse und Zweig
Friedrich Hölderlin (1770-1843) ist in seinem Schaffen den zeitgenössischen Literaturepochen nicht eindeutig zuzuordnen und nimmt daher eine Sonderrolle in der deutschen Literatur ein. Seine geistige Erkrankung prägte Hölderlins Leben – dennoch gilt er als einer der bedeutendsten Poeten der abendländischen Literatur. Hölderlin war wohnhaft im Stift, in der Burse und dem Hölderlinturm (Bursagasse 6). Drei Werke: Der lyrische Briefroman „Hyperion“, das Übersetzungs-Meisterwerk „Antigone“ und das Gedicht „Der Neckar“.
Jakob van Hoddis‘ (1887-1942) hieß eigentlich Hans Davidsohn. Das Pseudonym „Van Hoddis“ ist ein Anagramm seines Nachnamens. Ab 1912 meldet sich verstärkt seine Psychose, weshalb er immer mehr den Bezug zur Realität verlor und immer wieder in Kliniken geschickt wurde. Zuvor war er in den expressionistischen Kreisen Berlins ein verehrter Künstler gewesen. Van Hoddis lebte in Tübingen in der Wilhelmstraße 25, der Sofienstraße 2 und in der Nervenklinik, Osianderstraße 22. Drei Werke: Das Prosastück „Von mir und vom Ich“ und die Gedichte „Hymne“ und „Nachtgesang“.