Millionen Tonnen an Verpackungsmüll werden jährlich in Deutschland produziert. Große Supermarktketten haben die Plastiktüte bereits abgeschafft. Lebensmittel komplett unverpackt einkaufen – das ist bisher nur in wenigen Läden möglich. Ab Sommer 2017 geht das aber auch in Tübingen.
Regional, ressourcenschonend und secondhand sind Merkmale, die Tübingens ersten Unverpacktladen „Speicher“ in Zukunft prägen sollen. Eingeschweißte Gurken und Nudeln in Plastikverpackungen kommen hier nicht in die Regale. Stattdessen werden Getreideprodukte und Hülsenfrüchte in zylinderförmigen Abfüllbehältern, sogenannten Bulk Bins, angeboten. Essig und Öl sind aus Glasballons abfüllbar. Gemüse und Obst werden lose in Holzkisten verkauft. Mit Hilfe einer Maschine wird Nuss-Mus selbst hergestellt und auch Süßigkeiten, Kräuter, Kaffee, Alkohol und sogar Reinigungsmittel sollen Teil des Ladensortiments sein.
So funktioniert das Konzept: Dosen und Gläser für den Einkauf bringt der Kunde selbst mit. Bevor er sich an den angebotenen Lebensmitteln bedient, werden die Behältnisse gewogen. Für das Leergewicht wird nämlich nicht gezahlt. Aber auch Spontaneinkäufer sind im „Speicher“ willkommen. „Wir werden Mehrwegbehälter im Laden verkaufen. Vielleicht führen wir auch ein Pfandsystem ein, das wissen wir noch nicht“, sagt Caner Ortanca, der den Unverpacktladen gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Andrea Bender betreiben wird.
Ort der Begegnung
Dass dadurch das Einkaufen umständlicher wird, glauben die beiden Tübinger nicht. Im Gegenteil: die Vorteile überwiegen für Caner und Andrea. Reduzierter Verpackungsmüll und das Vermeiden von Lebensmittelverschwendung, durch die individuellen Abfüllmengen, werden gefördert. „Wir glauben, dass durch dieses Ladenkonzept die Leute wieder bewusst einkaufen und Spaß dabei haben“, so Andrea. „Alle Sinne sollen miteingebunden werden. Bei uns kann man dann an den Produkten riechen und sie auch probieren.“
Den Laden stellen sich die Betreiber als einen Ort des Austausches vor. „Im herkömmlichen Supermarkt kommuniziert die Verpackung mit dem Kunden“, so Caner. Das ist im Unverpacktladen nicht der Fall. „Wenn jemand eine Frage hat, wie zum Beispiel wo das Produkt herkommt oder wie lange die Kochzeit ist, dann muss er auf uns zukommen. Das steigert das Miteinander.“
Upcycling als Ladenkonzept
Nicht nur Lebensmittel sollen im „Speicher“ angeboten werden, sondern auch Upcycling-Produkte. „Wir haben eine Bekannte, die Boxershorts aus Stoffresten näht. Die soll es zum Beispiel bei uns geben“, erzählt Andrea. Die Wiederverwertung von alten Sachen wird sich auch in der Ladeneinrichtung wiederspiegeln. „Vieles wollen wir selber bauen. Wir haben auch ein altes Küchenbüffet ergattert, das wir auf Vordermann bringen. Das sieht dann aus wie im Tante-Emma-Laden.“
Werkstattcharme trifft auf shabby chic
Den beiden Betreibern ist es wichtig, Kunststoffe und Plastik im ganzen Laden zu vermeiden und keine neuen Materialien zu verwenden. Deswegen suchen sie nach möglichen Ladentischen, Regalen und Dekoartikeln auch auf dem Flohmarkt. „Das unterscheidet uns von anderen Unverpacktläden, bei denen die Bulk Bins zum Beispiel aus Kunststoff sind“, erklärt der 46-jährige Ladeninhaber. „Uns liegt es am Herzen da konsequent zu sein.“
Regional und ohne Gentechnik
Auch eine hohe Qualität der angebotenen Produkte strebt das Paar an. Frei von Gentechnik und regional müssen sie sein. Deswegen planen sie das saisonale Obst und Gemüse von der solidarischen Landwirtschaft in Tübingen zu beziehen. Vorrang haben insbesondere Erzeugnisse, die aufgrund ihres Aussehens nicht im Handel verkauft werden. Bei Waren aus dem Trockensortiment arbeiten Caner und Andrea an Kooperationen mit Händlern aus der Region.
Dabei verzichten sie überwiegend auf Lieferungen und wollen die Produkte selbst abholen. „Das hat den großen Pluspunkt, dass wir die Sachen schon unverpackt erhalten, bevor sie im Laden landen“, so Caner. Außerdem legen die beiden viel Wert auf den persönlichen Kontakt zu den Händlern. Den sollen auch die Kunden haben. Deswegen planen sie regelmäßig Erzeugertage zu veranstalten. „Wir wollen dadurch unsere Kunden und Hersteller zusammenführen, aber auch transparent machen, woher unsere Lebensmittel stammen“, erklärt die gelernte Schauwerbegestalterin. All das kostet natürlich etwas. Preislich sollen angebotene Grundnahrungsmittel, wie Reis, Nudeln und Mehl auf Alnatura-Niveau liegen.
Alle Hände voll zu tun
Dass der Laden in Tübingen viel Zulauf findet, daran haben die beiden keinen Zweifel. „Tübingen ist eine sehr alternative Stadt und die Bewohner haben ein großes ökologisches Bewusstsein“, sagt Caner. Schon bald wollen sie aus der ehemaligen Schreinerei einen Lebensmittelladen zum Wohlfühlen schaffen. Noch diese Woche beginnen die ersten Bauarbeiten, die nicht genehmigungspflichtig sind. Da es sich nämlich um eine Nutzungsänderung handelt, brauchen die beiden Betreiber für manche baulichen Vorhaben eine Genehmigung. „Das ist aber nur reine Formsache“, so der Ladeninhaber. In diesem Sommer schon soll die Eröffnung stattfinden.
Für die Zeit danach haben Caner und Andrea bereits weitere Ideen. „Wir wünschen uns auch irgendwann ein kleines Bistro im Laden zu haben und an einzelnen Tagen Fleisch und Käse zu verkaufen“, erzählt die 45-Jährige. „Aber da wissen wir noch nicht, mit welchen Auflagen oder Verboten zu rechnen ist“, ergänzt Caner, der früher im Risikomanagement tätig war. Auch Lesungen, Musikveranstaltungen oder Vorträge zum Thema Nachhaltigkeit sollen angeboten werden. Eins steht fest: das Interesse an dem Laden ist groß. Schon jetzt bekommen die beiden Bewerbungen von Tübingern, die im „Speicher“ arbeiten wollen.
Fotos:
Titelbild und Bild 1: Joshua Wiedmann
Bild 2 „Speicher Innenansicht“: Speicher Team intern
Bild 3 „Speicher Team“: Nicole Plich
Bild 4 „Speicher Außenansicht“: Marko Knab