Sex: Was ist das eigentlich? Für Dr. Christoph Ahlers nichts Geringeres als die intimste Form menschlicher Kommunikation. Zum Semesterende füllte die 36. Veranstaltung von Querfeldein e.V. mit dem Berliner Sexualtherapeuten trotz sommerlicher Mittagshitze das Ribingurumu.
Christoph Joseph Ahlers freut sich, dass so viele junge Leute sich an einem Freitagmittag wissenschaftlichen Input geben lassen wollten. Ahlers begann in der forensischen Psychologie, kam dann zur klinischen Sexualforschung und schließlich zur Paartherapie. In seine Berliner Praxis kommen Leute, die sich um ihre Beziehungen oder ihre Sexualität sorgen. Damit erklärt Ahlers auch gleich seinen Ansatz: Sexualität besteht laut ihm eben nicht nur aus Fortpflanzung und Erregung, sondern als wichtigstem Punkt auch aus Körperkommunikation.
Sex befriedigt, so Ahlers, das psychosoziale menschliche Grundbedürfnis, verstanden, akzeptiert und wertgeschätzt zu werden. Das gehe auch durch Komplimente oder Auszeichnungen, sei aber nirgendwo so intensiv wie im wortlosen Körperkontakt. Beziehungsprobleme—und damit vor allem die Sexualität von Paaren, selbstdiagnostizierte sexuelle Probleme und tatsächliche Funktionsstörungen hätten daher sehr oft mit Problemen zu tun, sich auszudrücken oder die eigenen Kommunikationsbedürfnisse überhaupt zu verstehen.
Aber warum fehlt unserer Gesellschaft so ein Bewusstsein für den Kommunikationsaspekt von Sex? Laut Ahlers ist dafür wesentlich die Sexualmoral der katholischen Kirche verantwortlich: Sex dient der Fortpflanzung. Erregung ist allenfalls Nebenprodukt, aber Bestätigung und Anerkennung gibt es nur im Glauben und bei Gott. „Ein bisschen Himmel“ könne aber jede und jeder auch unter der Bettdecke erfahren, wenn die sexuelle Kommunikation stimme.
Himmel und Hölle liegen nah beieinander
Sexualität kann aber auch die Hölle sein. Mit einem Teil davon setzt sich Ahlers als Vorreiter auseinander. 2005 startete „Kein Täter werden“ als weltweit erstes Projekt, in dem Menschen, die bei sich pädophile Tendenzen entdecken, vorbeugend therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können: feststellen, ob sie wirklich pädophil sind, die Neigung als zu ihnen zugehörig akzeptieren und dann Wege finden, wie sie deren Auslebung verhindern. Vorher wurde zwischen tätlichem Kindesmissbrauch und einer pädophilen Neigung nicht unterschieden. Dabei sei, so Ahlers, nur ein Drittel der Täter tatsächlich pädophil, nutzten die Beeinflussbarkeit von Kindern zur Ersatzhandlung. Mittlerweile haben sich schon über 5.000 Leute für eine Therapie gemeldet.
Mit den Problemfällen, die Ahlers alltäglich in seiner Praxis erlebt, geht der Therapeut humorvoll um: Mit verstellter Stimme führt er Mythen und Einbildungen wie „Samenstau“ und den durch Pornographie vermittelten Leistungsdruck ad absurdum. Das größte Hindernis einer gelungenen Sexualität sieht Ahlers im Selbstoptimierungszwang unserer Leistungsgesellschaft. Wer im Bett etwas beweisen wolle und wer sich Druck mache, möglichst viel auszuprobieren, um ja nichts noch Besseres zu verpassen, könne sich nie zwanglos auf den Zauber einer zwischenmenschlichen Begegnung einlassen. Eine gesunde Sexualität sei, wenn nichts müsse und man sich der Körperkommunikation ergebnisoffen hingeben könne.
Redebedarf zu heißen Themen
Das Moderations-Duo hakt dabei immer wieder kritisch nach, wenn Ahlers steile Thesen bringt. Auch das Publikum kann eine halbe Stunde lang brennende Fragen stellen, naive Dr.-Sommer-Atmosphäre kam dabei aber nicht auf. Ahlers stellt aber auch klar: Von ihm gibt es keine endgültige Weisheit oder Einmischungen, sondern nur Fragen und Problemfälle aus seiner Praxis.
Der unbegrenzte Zugang zu Pornographie sei nicht per se gut oder schlecht, sondern in seinen Langzeitfolgen zu erforschen. Außerdem brauche es mehr Aufklärung bei jungen Menschen darüber, dass Pornos eben nicht echten Sex darstellten, sondern eine zur maximalen Luststeigerung überzeichnete sexuelle Fiktion. Polyamore Beziehungen stünden oft vor dem Problem, dass sich die Beteiligten nicht verbindlich auf eine Person einlassen könnten, aus Angst, jemand anderen zu verpassen. Mit guter Kommunikation und ohne Zwänge könnten sie aber natürlich funktionieren. Monogamie sei aber auch keine naturgegebene Beziehungsform, sondern ein Ergebnis der christlichen Sexualmoral und der anonymisierten Massengesellschaft. Natürlicher sei evolutionsgeschichtlich freie Liebe in Kleingruppen, bei der sich alle um die Kinder kümmern.
Zum Abschluss bedankte sich das Moderationsteam für einen würdigen Semesterabschluss. Auch Ahlers zeigte sich begeistert und spendete sein Honorar an Querfeldein, um weiter solche Veranstaltungen möglich zu machen. Wo es mit dem Verein hingeht, ist noch unklar: Der nächste Gast steht noch nicht fest, die Moderation machte schon munter Werbung für neue Mitglieder, um Querfeldein am Leben zu erhalten.
Fotos: Paul Mehnert