Tübingen erhält ein neues Institut und die Weltethos-Stiftung einen neuen Präsidenten
Tony Blair, Kofi Annan und Helmut Schmidt kamen in den vergangenen Jahren als Weltethos-Redner nach Tübingen. Dieses Mal sprach der Direktor des im Frühjahr gegründeten Weltethos-Instituts Claus Dierksmeier. Die Veranstaltung hielt einige Überraschungen bereit.
von Hendrik Rohling
„Ein Glücksfall für uns alle.“ So bezeichnet Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Weltethos-Projekt, als er kurz nach 18 Uhr im Festsaal der Neuen Aula an das Rednerpult tritt. Hans Küng stehe wie Walter Jens oder Ernst Bloch für eine Wissenschaft, die sich zu Wort meldet. „Wir brauchen eine globale Verständigung auf ein Ethos“, fügt Kretschmann hinzu. Es ist der 18. April 2012. Universität und die Stiftung Weltethos haben zur 10. Weltethos-Rede eingeladen. Gehalten wird sie als Antrittsvorlesung von Claus Dierksmeier. Hans Küng, Präsident der Weltethos-Stiftung, stellt den erst 40-jährigen Wirtschafts-ethiker als „idealistisch gesinnten Realisten“ vor, bevor dieser seine Rede zum Thema „Wie sollen wir wirtschaften? Das Weltethos im Zeichen der Globalität“ beginnt.
Qualitative statt quantitative Freiheit
Die Rede ist metaphernreich, sprachlich bis ins Kleinste durchdacht. Bisweilen wirken
die Sätze sogar stilistisch überladen. Der Rennwagen, der gegen die Wand fährt, wird als Bild für den Liberalismus geradezu ausgebeutet. „Der Crash war kein Zufall, sondern der Tatsache geschuldet, dass der Flitzer von Fahrern gesteuert wurde, die alle Seitenblicke auf die ökologischen, sozialen und ethischen Leitplanken der ökonomischen Fahrstrecke als überflüssig erachteten.“ Emphatisch stellt Dierksmeier seine Idee vor, zwischen den Begriffen quantitativer und qualitativer Freiheit zu unterscheiden. Selbst gesetzte Regeln und Grenzen könnten die Anzahl der Möglichkeiten verringern, die Qualität der Freiheit aber stärken. Wer möchte da widersprechen? Verständlich wird der Überzeugungsdrang des Vortrags erst im Horizont einer angelsächsischen Prägung des Freiheitsbegriffs. Dierksmeier arbeitete zehn Jahre in den USA. Nachdem er sich 2002 an der Universität Jena habilitierte, folgte er einem Ruf nach Boston. Unter mehr als 30 Bewerbern wurde er im Frühjahr dieses Jahres vom Institutsbeirat als Direktor für das Weltethos-Institut ausgewählt.
Schwesterinstitut in Peking
Unter den Gästen im Festsaal sind auch Horst Köhler und Erwin Teufel, beides Ehrensenatoren der Universität. Zudem ist eine Delegation aus Peking angereist. An der Universität Peking wird, wie im Rahmen der Weltethos-Rede bekannt wurde, ein Schwesterinstitut entstehen. Dieses „Joint Venture“ soll die langjährige Zusammenarbeit der beiden Universitäten um den Schwerpunkt interdisziplinärer Forschung im Bereich Wirtschaftsethik bereichern. Finanziert wird das Pekinger Institut von der Sany Group, einem chinesischen Maschinenbauunternehmen. Dessen Gründer und Hauptaktionär Liang Wengen, der als der reichste Festlandchinese gilt, ist ebenfalls nach Tübingen gereist.
An die Rede Dierksmeiers schließt sich ein Dialog mit Hans Küng an. Der Fokus richtet sich schnell auf die Ziele und Möglichkeiten des neuen Instituts. Dierksmeiers Pläne fußen auf der Überzeugung, dass Ethik und Wirtschaften sehr wohl zusammengehen. Es gelte, „die Menschen als kreative Konstrukteure des Wirtschaftens in den Blick zu nehmen“. Ziel sei es, ein globales Wirtschaftsethos zu entwickeln und zu verbreiten. „Wir wollen in die Unternehmen und Medien hineinstrahlen. Wer, wenn nicht wir, kann diese Lobbyarbeit leisten“, resümiert Dierksmeier.
Ansässig ist das Weltethos-Institut in einem Umbau in der Hinteren Grabstraße. Es handelt sich um eine der Universität angegliederte Einrichtung, die nach der Satzung die „[…] wissenschaftliche Fundierung der Idee eines Weltethos in der Gesellschaft und globalen Wirtschaft […]“ zum Ziel hat. Wirtschafts-ethik, Weltreligionen und interkulturelles Lernen sollen zukünftig die Schwerpunkte in Forschung und Lehre bilden. Dieses Semester werden bereits mehrere Lehrveranstaltungen angeboten, die Studierenden aller Fachrichtungen offen stehen und unter Umständen als Schlüsselqualifikation angerechnet werden können.
Horst Köhler wird Küngs Nachfolger
Finanziert wird das Institut von der Stiftung des Unternehmers Karl Schlecht, dem Gründer von „Putzmeister“, dem Weltmarktführer für Betonpumpen mit 1300 Beschäftigten allein in Deutschland. Ende Januar wurde das Unternehmen unter Protest der Belegschaft von Liang Wengens Sany Group übernommen. Ob dessen Beteiligung am Weltethos-Projekt nach der Übernahme allein eine Image-Aktion darstellt oder auf wirtschaftsethische Grundüberzeugungen zurückgeht, muss sich erst noch zeigen.
Das Ende der Weltethos-Rede hält eine Überraschung bereit. Hans Küng kündigt an, sich im April 2013 mit 85 Jahren vom Präsidentenamt seiner Stiftung zurückzuziehen. Ein Nachfolger sei aber bereits gefunden. Er befände sich im Publikum: Altbundespräsident Horst Köhler soll im kommenden Jahr die Leitung der Weltethos-Stiftung übernehmen.
Hans Küng, 1928 im Kanton Luzern in der Schweiz geboren, lehrte von 1960 bis 1996 an der Eberhard Karls Universität. Auf seine Anregung kam 1966 Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., nach Tübingen. Beide galten auf dem zweiten vatikanischen Konzil als die jungen Reformer der katholischen Kirche. Während Ratzinger in der Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung zu konservativen Positionen wechselte, blieb Küng Kirchen- und Papstkritiker. Aufgrund seiner Infragestellung des Unfehlbarkeitsdogmas entzog ihm Papst Johannes Paul II. 1979 die Lehrerlaubnis als katholischer Theologe. Durch die Auslagerung des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung konnte Küng weiterhin an der Universität Tübingen lehren. Zusammen mit dem Rhetorikprofessor Walter Jens hielt er zudem Studium-Generale-Vorlesungen. 1996 wurde er emeritiert.
1990 verfasste Küng die Schrift „Projekt Weltethos“. Durch die finanzielle Unterstützung des inzwischen verstorbenen Graf von der Groeben, der sich nach der Lektüre für die Idee begeisterte, konnte 1995 die Stiftung Weltethos entstehen. Bereits 1993 verständigten sich in der „Erklärung zum Weltethos“ erstmals Vertreter aller Religionen über grundlegende ethische Normen. Im Jahr 2000 hielt der damalige englische Premierminister Tony Blair die erste Weltethos-Rede in Tübingen. In den kommenden Jahren folgten unter anderem Jacques Rogge, Horst Köhler und Desmond Tutu.