„Hey Chris, hast du schon was vor heute Abend?“ – „Ich hab keine Zeit – da steh ich Aktmodell!“
Christoph Ries, 25 Jahre alt und Student der Soziologie und Empirischen Kulturwissenschaft, hilft Künstlern aller Altersklassen im Tübinger Zeicheninstitut in der Neuen Aula ihre Zeichenfähigkeiten zu verbessern. Er steht Aktmodell. Wie es ist, die Hüllen fallen zu lassen und was dieser Studentenjob mit Vasen und Obstschalen zu tun hat, erzählt er im Gespräch.
von Helen Monzel
Eine Gelegenheitsarbeit, die im Rhythmus von zwei Wochen stattfindet. Lediglich vier bis sechs Stunden pro Woche dafür opfern, bei Bedarf mehr oder weniger. Ein Stundenlohn von 12,50 Euro für ein paar Posen – klingt verlockend. Wenn da nur nicht die kleine aber entscheidende Anforderung wäre, diese Tätigkeit im Adamskostüm ausführen zu müssen. Sich völlig nackt vor mehr als ein Dutzend fremde Menschen stellen, verschiedene Posen einnehmen, dabei vielleicht in das ein oder andere bekannte Gesicht blicken. Das traut sich sicher nicht jeder zu. „Am Anfang erfordert es Überwindung, aber schnell wird es selbstverständlich“, sagt Chris.
Um sich selbst zu testen und um sich ein Bild davon zu machen, wie der Zeichnende das Aktmodell wahrnimmt, hat Chris zuerst einen Aktmalkurs als Teilnehmer besucht. „Am Anfang habe ich das weibliche Aktmodell kurz als Frau wahrgenommen, da es irritiert hat, jemand Nackten durchs Bild laufen zu sehen. Aber dann sitzt, liegt oder steht die Person da und sobald man den Pinsel in der Hand hat und drauflos malt ist das Aktmodell dann eher…wie eine Obstschale! Die Leute, die als Zeichner oder Maler an diesen Kursen teilnehmen, sind dankbar dafür, dass man diesen Job macht.“ Kurz darauf steht Chris selbst Aktmodell. „Natürlich ist man mit einem gewissen Schamgefühl konfrontiert und am Anfang auch ein wenig unangenehm berührt. Man steht in der Mitte von zwanzig Leuten und alle schauen einen an. Jedoch stellt man schnell fest, dass niemand einem ‚etwas abschaut’ und kurz darauf fühlt man sich lediglich wie eine Vase, die abgezeichnet wird!“ Die Atmosphäre ist sehr angenehm, woran Leiter Frido einen erheblichen Anteil hat. Mit viel Wohlwollen und ein paar einfachen und kreativen Anregungen erleichtert er den Aktmodellen den Einstieg. Den Teilnehmern wird natürlich künstlerische Freiheit gewährt. Ein offenes und lockeres Arbeitsambiente. Chris hat Spaß an dieser Arbeit.
Der Job ist anstrengender, als es vielleicht auf den ersten Blick wirken mag
Stillhalten, keine Miene verziehen, am besten nicht einen Muskel bewegen. Das stellt einen vor ganz neue Herausforderungen; grenzt schon an Sport. Bei teilweise zwanzigminütigen Posen kann auch schon mal ein Muskel verkrampfen, ein Fuß wegen zu geringer Durchblutung taub werden. Man lernt, auf eine neue Art und Weise in seinen Körper hinein zu fühlen und ihn zu kontrollieren. Körperlich, zum Beispiel durch Training, hat Chris sich nicht auf diese Arbeit vorbereitet, mental schon. Athletische Körper und klassische Schönheitsmerkmale sind fürs Aktmodellstehen nicht erforderlich – jedoch ein geklärtes Verhältnis zum eigenen Körper. Viele Zeichner wünschen sich auch Modelle mit runderen Formen oder kleineren Mankos. „Man wird betrachtet, als sei man eine Obstschale. Ob da nun viel oder wenig Obst drin ist, ist egal.“
Positives Feedback
Blöde Kommentare oder Bemerkungen muss Chris sich wegen des Aktstehens nicht gefallen lassen, allenfalls verblüffte Nachfragen. Er bekommt positives Feedback und Anerkennung für seine Tätigkeit. Die Eltern waren zuerst kurz irritiert, als sie hörten, was er tut, die Freundin besuchte als Kursteilnehmerin einfach mal eine Sitzung, in der er Modell stand, die Großmutter hatte akustische Verständnisprobleme, woraufhin keine weiteren Erklärungsversuche unternommen wurden. Einmal saß eine Bekannte unter den Teilnehmern in der festen Annahme, Chris würde als Kursteilnehmer mit ihr die Sitzung besuchen – die Überraschung war groß, als er dann nackt in der Mitte des Raumes stand. Doch auch in dieser Situation wurde ihm danach Respekt von ihr gezollt: „Coole Sache, die du da machst!“
Gepredigte Schönheitsideale, Medien die damit ihren Profit steigern, ein verqueres Bild vom Nackt-sein – dieser unkonventionelle Studentenjob ist eine gute Möglichkeit, all dies zu überkommen. Chris jedenfalls wird seinen Enkeln noch davon erzählen.