Von den zwei Unis in Tübingen und der unsichtbaren Grenze zwischen Berg und Tal
„Das Essen auf der Morgenstelle soll besser sein“, hört man oft von Geisteswissenschaftlern. Doch die wenigsten von ihnen waren schon einmal dort oben. Umgekehrt trifft man selten Naturwissenschaftler in der Wilhelmstraße. Hat die Uni durch die Auslagerung der Naturwissenschaften auf den Berg zwei Parallelwelten geschaffen? Ich wage mich als Geisteswissenschaftlerin in die Hemisphäre der Naturwissenschaftler.
von Veronika Wulf
„Tübingen hat keine Uni — Tübingen ist eine Uni.” Diesen Spruch hat wohl jeder schon einmal gehört. Bei über 27.000 Studierenden ist es kein Wunder, dass man sie in der Stadt überall sieht. Aber ist Tübingen wirklich eine Uni? Nicht nur architektonisch liegen zwischen der Uni Berg und der Uni Tal Welten. Trotz starker Bemühungen, einen interdisziplinären Dialog der Fakultäten zu fördern, herrscht im Unialltag eine Kluft zwischen Naturwissenschafts- und Geisteswissenschaftsstudierenden — grob gesagt: zwischen Berg und Tal. Doch wie sieht diese Trennung aus? Ein neidvolles Aufeinanderblicken? Ein Gespinst aus Vorurteilen? „Für mich ist die Uni Tübingen automatisch der Brechtbau und die Wilhelmstraße“, sagt eine Medienwissenschaftlerin. Und was ist mit den Naturwissenschaftlern oben auf dem Berg? Interessieren die sie nicht? „Ich habe eigentlich keine Meinung zu denen da oben“, meint sie. „Ich glaube auch, die sind in ihrer eigenen Welt und wollen mit den Geisteswissenschaftlern nichts zu tun haben“.
Ich bin ebenfalls ein Tal-Mensch. Und ich gebe ehrlich zu: Ich war noch nie oben auf der Morgenstelle. Nur einmal im ersten Semester bin ich vorbeigefahren, weil ich versehentlich in den falschen Bus gestiegen bin. Eines verregneten Donnerstags beschließe ich, den Berg zu erklimmen (mit dem Bus natürlich) und ein paar Vorurteile zu überprüfen. Sind die Gebäude wirklich alle hässlich? Schmeckt das Mensaessen so viel besser? Und interessieren sich die Naturwissenschaftler tatsächlich nicht für uns? Ein Student der Medizintechnik, der mir über den Weg läuft, meint über die „Täler“: „Ich weiß gar nicht, was da unten so läuft. Da sind doch die Philosophen und so ein Zeug.“ Hm, das hört sich ähnlich an wie unten. Vielleicht sind wir ja doch nicht so verschieden. Klar, die Architektur ist eine andere. Oben ist vieles moderner, kastenförmiger. Aber hässlicher? Wer das sagt, hat wohl noch nie den Brechtbau gesehen. Und das Mensaessen? Meine Meinung: genau das gleiche Futter. Und ob ich jetzt aus Tellern esse (die in der Wilhelmstraße beim Salatbuffet übrigens die gleichen sind) oder aus „Gefängnisnäpfen“ ist mir herzlich egal. Aber das ist wohl buchstäblich Geschmacksache.
Wenn ich schon einmal oben bin, dann auch richtig! Ich beschließe mich, in eine Biosensorik-Vorlesung zu setzen, was nicht weiter von meinem Fach der Empirischen Kultuwissenschaft entfernt sein könnte. Es geht um Elektrolyse, galvanische Zellen, Daniell Element. Ich fühle mich an meine Schulzeit erinnert. Als dann nur noch Alphas, Omegas, Viecher äh Phis und Wurzeln über die Leinwand schwirren, suche ich lieber Rechtschreibfehler auf den Folien und überlege mir, wie man diese glücklicher gestalten könnte. Das Schöne an den Formeln: Sie gelten einfach — egal, aus welcher Perspektive man sie sieht und wie man sie auslegt. Es gibt keine Interpretationsmöglichkeiten. Auch mal nicht schlecht zur Abwechslung!
Das Fazit meines kleinen Ausflugs: So verschieden sind wir gar nicht. Und hassen tun wir uns auch nicht. Wir sind uns höchstens egal.
Ein paar (un)schöne Klischees über die zwei Unis:
Auf dem Berg…
… isst man gesittet vom Teller
… ist Studieren die ganze Woche angesagt
… fängt die Vorlesung pünktlich an
… sind die Hörsäle steiler
… sind die Gebäude hässlich
… ist man ab vom Schuss
… fühlt man sich „richtig wissenschaftlich“
… zieht man sein Ding durch
Im Tal…
… ist die richtige Uni
… sind die schöneren Gebäude
… findet das Unileben statt
… hat die Mensa Gefängnisnäpfe
… hat man zwei Tage in der Woche Uni
… stehen die schönen Gebäude, außer dem Kupferbau
… kommen alle eine Viertelstunde später
… verstecken Juristen Gesetzbücher