Tübingen als Experiment

Was Werbe- und Konsumforschung von einer Stadt wie Tübingen lernen könnte

Die Mails von den Verteilern der Uni quellen über: Befragungen über Befragungen. Aber was für Viele nervig erscheint, ist für die Forschung immens wichtig. Einige Städte werden dabei direkt von Wissenschaftlern auseinandergenommen. Welche Rolle könnte Tübingen dabei spielen?
von Alexander Link

Die pfälzische Stadt Haßloch ist langweilig normal — und deswegen etwas Besonderes: Sie gilt als das repräsentativste Städtchen in Deutschland. Ganz anders als Tübingen.
Die Gesellschaft für Konsumforschung (GFK) testet dort neue Werbespots und Anzeigen, die es noch nirgendswo gibt. In Supermärkten soll später dann der beobachtete Einkauf von Kunden auf die „tatsächliche Wirkung“ der Werbung erschlossen werden. Ein Experiment, das man auch in Tübingen machen könnte?
Laut GFK stimmen erstaunliche 90% der Ergebnisse aus Haßloch mit dem späteren Absatz überein. Eine gute Quote. Aber funktioniert  Forschung in Haßloch wirklich so gut wie behauptet? Und wenn ein Experiment für eine ganze Stadt — was sehr an den Film „Truman-Show” erinnert —  funktioniert, könnte man dann nicht auch Erkenntnisse aus Tübingen ziehen?
Dr. Tino Meitz, Medienwissenschaftler und Werbeforscher an der Uni Tübingen, ist solcher Forschung gegenüber eher skeptisch: „Haßloch ist eine Stadt, die in sehr vielen für Konsum relevanten Merkmalen mit dem Bundesdurchschnitt übereinstimmt”, erklärt er die Gründe für die Wahl der Stadt als ein  Mekka der Konsumforschung. Dennoch sollte man die Forschung auch dort kritisch betrachten: „Haßloch gibt nicht die Konsumwirklichkeit wieder”, so Dr. Meitz.
Gründe gibt es viele: Auch die Kleinstadt stellt nicht in allen Merkmalen den Bundesdurchschnitt dar, über den man etwas herausfinden möchte. Viele Otto-Normal-Verbraucher machen noch keine Kopie des ganzen Landes. Außerdem sind die Befragungen höchst selektiv, denn die Teilnahme ist freiwillig, entsprechend machen eher Personen mit, die  der Konsumforschung gegenüber positiv eingestellt sind.
Dr. Meitz vermutet sogar optimistische Verzerrungen bei den Befragungen: „Ich würde sagen, dass das Bild grundsätzlich positiver gegenüber Konsum sein dürfte.“
Außerdem sind auch Trotzeffekte, die sogenannte Reaktanz, nicht unüblich. Merken die Menschen, dass sie immer wieder gezielt mit neuer Werbung konfrontiert werden? Konsumieren sie vielleicht bewusst die beworbenen Produkte nicht mehr oder boykottieren Befragungen?
Solche Effekte würden wahrscheinlich auch in Tübingen auftauchen. Warum sollte man also Tübingen überhaupt als Modellstadt verwenden? Ginge das überhaupt und wenn ja, für welche Forschungsfragen?
Stichproben aus Tübingen könnten gewisse Rückschlüsse auf  Gruppen in Gesamtdeutschland zulassen. Denn Tübingen hat eine interessante Bevölkerungsstruktur: „Eine junge Stadt, ein gewisses politisches Meinungsbild, ökologisch interessierte Menschen — eine typische Studentenstadt“, bringt
Dr. Meitz an.
So ließe sich überlegen, ob man durch Forschung hier Rückschlüsse auf bestimmte Zielgruppen, wie beispielsweise den 19 bis 29-Jährigen, bekommen könnte.
„Erhebungen in Tübingen sind also sinnvoll, wenn man sich den Grenzen der Aussagekraft bewusst ist“, so Dr. Meitz. Für Gesamtdeutschland würde man in Tübingen wohl kaum  repräsentative Befragungen hinbekommen.
Außerdem müsste man diese Konsumforschung dann auch eher in homogenen „Studenten-Stadtteilen” wie dem WHO oder dem französischen Viertel betreiben. Dr. Meitz bezeichnet sie als „einzelne Stadtteile, die sehr geschlossen sind und das Bild, das man von Tübingen kolportiert, auch eher darstellen können.”
Denn nicht jeder Stadtteil ist gleichermaßen studentisch — die Kluft zwischen alter und junger Stadtbevölkerung ist groß. Daher kann man Tübingen wahrscheinlich als Ganzes sowieso nicht als repräsentative Stadt für irgendeine Zielgruppe verwenden. „Ich würde Tübingen nicht als symptomatisch bezeichnen”, merkt Dr. Meitz daher an.
Doch wenn weder Haßloch noch Tübingen hundertprozentig sichere Ergebnisse liefern können, bleibt ein wesentlicher Vorteil: die billigen Produktionskosten. Um die Einführung eines neuen Joghurts oder die Beliebtheit einer kleinen Werbekampagne zu testen, lohnt es sich kaum, bundesweite Umfragen in den Zielgruppen zu machen.
Um junge Zielgruppen zu erforschen, könnte man also auch in Teilen Tübingens Konsum- und Werbeforschung betreiben, wenn Zeit und Geld fehlen und man sich der jungen Zielgruppe bewusst ist: „Tübingen als ein Soziotop eignet sich dann, wenn die Forschung gewisse Fragen unbedingt beantworten will”, so Dr. Meitz.
Forschungsökonomie nennt man das. Und die gibt es in der Wissenschaft nicht selten. Aber Tübingen wird wohl nie zu einer Modellstadt werden, denn dafür ist Tübingen einfach zu bunt.

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