Immersatt? Immerglücklich? Ganz falsch.

Kritisches Theater besticht mit Ironie und Witz. Zu sehen in: Sie frisst. Ein Stück. Sieben Segmente.Eine besondere Gruppe, welche die Liebe zur Kunst, zum Theater, zur Musik sowie zum literarischen Schreiben zusammengeführt hat: das Rohbau Kollektiv. Sie sind allesamt Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen mit einer Idee etwas zu unternehmen. Aus einem bekannten Kinderbuch über eine hungrige Raupe wurde eine anspruchsvolle Adaption und Weiterführung. Alle haben dazu beigetragen: Jeder schrieb seine Version und diese wurden zusammengesetzt, so dass am Ende viele Perspektiven und Meta-Ebenen in einem Kaleidoskop mündeten: Sie frisst. Ein Stück. Sieben Segmente.

Theater mit Einsatz
Am vergangenen Samstag war die Premiere im Löwen, die charmanteste und wohl morbideste Bühne unter den Bühnen Tübingens. Ein Relikt aus vergangener Zeit mit samtroten, bequemen Sitzen. Hier probte das Rohbau Kollektiv seit letzten Oktober mit vollem Einsatz auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Sie haben Spaß  aus sich heraus zu gehen und so für einen kurzen Moment anders, jemand anderes zu sein. Das Theater ist selbst ein großer Kokon. Man schlüpft in eine Rolle und wird zu einem anderen. Desgleichen zeigt sich die Umsetzung facettenreich. Elemente von Pantomime, Ausdruckstanz und Slap-Stick sowie ein Potpourri aus Gesang, Life-Musik, Licht und Video, kurz: ein Gesamtkunstwerk.
Das Leben einer Raupe
Zuerst das Vorspiel: Im Liebesrausch erfüllen die Schmetterlinge ihre Bestimmung. Die Frucht dieser Liebe ist ein Ei. „Und als an einem schönen Sonntagmorgen/ Die Sonne aufging, hell und warm,/ Da schlüpfte aus dem Ei – knack- /Eine kleine Raupe.“ Sie kommt auf die Welt. Sie f r i s s t. Verpuppt und verwandelt sich. Aus dieser Metamorphose entschlüpft: ein Schmetterling.Wie viel verträgt so eine kleine Raupe, wann ist sie gesättigt? Und wie sieht ihr Ziel aus? Ihr Ziel ist ein ferner Wunsch: „Wenn ich Schmetterling wär´…“
Beginn des großen Fressens
Das ständige Fressen und die Suche nach Nahrung, um endlich groß genug zu sein, ist eine geschickte und subtile Inszenierung der verschiedenen gesellschaftlichen Pathologien, die heutzutage virulent geworden sind. Um einige zu nennen: Der Bildungs- und Qualifizierungswahn der Generation Praktikum, die Automatismen und Beschleunigung im Arbeitsbereich und Alltagsleben sowie die allgegenwärtigen Kontroll- und Überwachungsmechanismen. Wie sich das konkret auswirkt, ist im Stück drastisch zu sehen: Da sitzen zwei versnobte Ehepaare zum Essen zusammen und reden von Power-Yoga und kollektiven Schuldgefühl. Das Publikum lacht darüber, denn es erkennt sich teilweise selbst. In dieser Überspitzung liegt viel Wahres. Auch wahr ist: „Essen bewusst genießen“.  Dies gilt für das ganze Leben. Durch einen Haufen von sinnlich, saftig, süßen Köstlichkeiten schmatzt sich der Fresser. „Die Fleischeslust, sie packt/ einen bei der Ansicht von diesem geilem Schinken! Ein Hinterstück das seinesgleichen sucht, prall und üppig/ und nicht zu speckig zieht es einen an, und auch es/ wird vernascht./ Ham Ham.“ Auf diese Weise das Essen zu vernichten, bedeutet, dass es uns bald selbst vernichten wird. Doch wie damit umgehen? Die Erlösung aus diesem Teufelskreis mag nur durch die ironische Brechung gelingen, so auch im Stück: Im Hintergrund spielt sich zu pathetisch-wagnerianischer Musik eine Choreographie des Essens ab. Am Ende – geschrien – die Forderung: A b s t i n e n z!
Wer erkennt, dass der Schmetterling nicht das Ideal, sondern ein Trugbild ist, der wird wirklich zufrieden sein können, denn: „O glücklich wer noch hoffen kann aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.“
Was bleibt?
Zum Schluss des Abends bleibt die Gewissheit, dass ein Kinderbuch zu mehr verhelfen kann als ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Wer diesen tiefsinnigen Zauber erleben möchte, hat dazu noch am 16./21./26. Januar jeweils 20 Uhr die Gelegenheit.

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