An der Tübinger Uni gab der Schweizer Historiker Andreas Kappeler am 29. April in seinem Vortrag einen Überblick über die Geschichte der Ukraine. Er erklärte, warum gerade das Vergangene so wichtig für den aktuellen Konflikt um Krim, Donbass und die Ostukraine ist.
In seiner Einführung ruft Klaus Gestwa, Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte, dem voll besetzten Hörsaal in der Keplerstraße 2 zunächst noch einmal den Kontext der Veranstaltung ins Gedächtnis zurück. Im Zuge der Maidan-Proteste und des Kampfes um die Ostukraine wurde die Vorlesungsreihe über die Ukraine von ihm und dem Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ ins Leben gerufen. Gerade für die Ukraine sei Andreas Kappeler der ausgewiesene Experte im deutschsprachigen Raum, der entgegen all der irrationalen Äußerungen zum immer noch andauernden Konflikt, eine Stimme der Vernunft gewesen sei, die wieder auf den rechten Weg der Wissenschaft zurückweise, sagt Gestwa.
Mit diesen mächtigen Worten angekündigt kann Andreas Kappeler nicht anders, als diese Äußerungen zunächst abzuschwächen. So verweist er auf die Pluralität der Narrative der Geschichte. Dass es nicht eine richtige Meinung gebe, sondern viele verschiedene Narrative die gerade im aktuellen Konflikt instrumentalisiert würden. Diese Erzählmöglichkeiten der Geschichte stellt Kappeler nun in seinem Vortrag vor, wobei er immer wieder Kapitel überspringen muss. Keine Zeit das näher auszuführen habe er, und man merkt, dass dieser Mann auch noch Stunden mehr über die einzelnen Epochen halten könnte.
Putin sagte: „Ukrainer und Russen sind ein und dasselbe Volk“
Zunächst erklärt Kappeler die gemeinsame ethnische Vergangenheit der drei Ostslawischen Völker; Russen, Weißrussen und Ukrainer entstammen alle samt der Kiever Rus‘, welche sich im Mittelalter auf dem europäischen Gebiet Russlands, dem Norden der Ukraine und dem gesamten Gebiet des heutigen Weißrusslands ansiedelten. Auf diese gemeinsame Vergangenheit würden vor allem russische Nationalisten immer wieder verweisen. So habe Putin hinsichtlich der Eigenständigkeit der Ukraine gesagt, Russen und Ukrainer hätten die gleiche Kultur, ähnliche Sprachen und seien daher ein und dasselbe Volk.
Insbesondere ukrainische Intellektuelle streiten dies jedoch ab, wie Kappeler weiter ausführt, und verweisen auf die Neuzeit, in der die Ukraine Teil der Adelsrepublik Polen-Litauen war, und somit (im Gegensatz zu Moskau) unter europäischem Einfluss stand. Hier zeigen sich jedoch bereits Risse, die die Ukraine in Westen und Osten teilen. Werden in der westlichen Historiografie besonders die zivilisatorischen Fortschritte der polnischen Herrschaft gepriesen, konzentriert sich die ostukrainische Erzählung auf den Freiheitskampf der Kosaken unter ihrem Hetman (Anführer der freien Reiter) Bohdan Chmel’nyc’kyj. Diese Teilung verfestigte sich noch, als nach dem Ersten Weltkrieg im Westen der Ukraine eine Volksrepublik von Symon Petljura ausgerufen wird, die allerdings schließlich durch die Rote Armee beendet wird, woraufhin die Ukraine zur Sowjetrepublik wird und dies bis 1991 bleibt.
Widerstandskämpfer oder Verbrecher?
Die Kollaboration von Ukrainern mit den Nazis angeführt von Stepan Bandera während des Zweiten Weltkriegs und deren Gedenken habe ebenso immer wieder zu Spannungen mit dem großen Bruder in Moskau geführt. 2010 wurde der zu Sowjetzeiten ermordete Bandera vom damaligen Präsidenten Juschtschenko rehabilitiert und erst in diesem April hatte das ukrainische Parlament Banderas Organisation UPA als Widerstandskämpfer erklärt. Dass die paramiliärischen Verbände auch an Verbrechen der Nazis beteiligt gewesen sein sollen, ist heute umstritten. Jedoch weißt Kappeler darauf hin, dass für Teile Osteuropas die Sowjetzeit als traumatischer empfunden wurde als die relativ kurze Herrschaft der Nazis.
Legt eure Brillen ab
Nach einer Fragerunde richtet sich Kappelers letzter Appell an die Zuschauer, die Brille der Deutschen abzulegen, welche durch die Aufarbeitung der Nazi-Zeit geprägt sei. Es sei vielmehr wichtig, zu versuchen Osteuropa in seinem eigenen kulturellen Kontext zu sehen. So seien seiner Meinung nach keine antisemitischen Organisationen in der Ukraine aktiv, wogegen in Russland offen rechtsextreme Verbände auf die Straße zögen. Als neutraler Schweizer finde er daher die Politik der EU gegenüber der Ukrainekrise angemessen.
Das Ende eines spannenden Vortrags voller Informationen über ein wichtiges Thema, dessen Präsenz so ein Teil des Studienalltags wurde.