Doch der Aufstieg lohnt sich. Wer sich auf den Kapellenberg begibt, spürt vielleicht nicht nur die Sonne intensiver, sondern wird auch von der Muse geküsst wie Ludwig Uhland. Er widmete dem weißen Gebäude, welches dem heiligen Sankt Remigius geweiht ist, eigene Verse. Neben anderen Tafeln mahnen sie Weiß auf Schwarz und in Gold gerahmt die Vergänglichkeit des Lebens an. Gleichwohl, welchen Geist man dort oben sucht, man wird ihm habhaft werden. Glauben und Genuss sind hier gleichermaßen zu Hause.
Zurück in der Tübinger Altstadt. Familie Brenner öffnet in einer halben Stunde wieder die Pforten der Haaggasse 22. Der Geruch von gekochtem Sauerkraut liegt in der Luft. Und alle Hände packen an, damit sie den Gästen, die vor der kleinen Holztür am Ende der kurzen Treppe warten, den gewohnten Genuss bieten können. Das ist der Gegenpol zu Smartphone-Apps, mit deren Hilfe man sich Essen an die Haustüre liefern lassen kann. Hier muss der Gast selbst noch etwas Zeit investieren, wenn er vor dem Besen wartet – denn Reservierungen, die gibt es hier nicht.
Das Hobby seines Vaters und Davids jetziges Auskommen, das war früher harte und wenig erfüllende Arbeit. Im Verlauf der Geschichte stellten die sogenannten Gôgen lange Zeit die Unterschicht der Tübinger Gesellschaft dar. Deutlich wurde das auch am Wohnort der Weingärtner innerhalb der Stadt: Sie lebten in der Unterstadt, den kleinen und engen Gassen nahe dem Ammerkanal. Die Universitätsangehörigen schätzten deren Gesellschaft jedoch wenig: Hermann Hesse soll dort einmal eine wenig schöne Begegnung gehabt haben – diese war ihm im Gegensatz zu Uhland keineswegs ein literarisches Denkmal wert.
Das Leben und die Arbeit als Gôge war schwer, der Ertrag selten ausreichend, um eine Familie zu ernähren. Angeblich wenig schmackhafte Weine entsprangen den eher kargen Böden am Fuße der schwäbischen Alb. Die Bodenverhältnisse sind heute nicht viel anders, allerdings setzt Familie Brenner bei ihren Reben auch nicht mehr wie die Gôgen auf Masse, sondern auf Klasse. Deshalb ist die Qualität mit den früheren Weinen aus dem Tübinger Umland auch nicht mehr zu vergleichen.
Vieles hat sich inzwischen geändert. Die Weine, die im Besen ausgeschenkt werden, sind wahrlichkeine „Semsakrebsler“. Auch das Leben von und mit dem Wein ist nicht mehr so schwer wie früher, aber ein Zuckerschlecken ist es nach wie vor nicht. Und die Entscheidung die Besenwirtschaft zu betreiben wurde auch nicht aus der Not heraus geboren, sondern war eine aus Liebe zum Handwerk. Nötig hätte es David Brenner als studierter Politikwissenschaftler wohl nicht gehabt. Aber davon hatte er nach dem Studium irgendwann die Schnauze voll, sagt er frei heraus. Und so wurde aus ihm der einzige hauptberufliche Weingärtner in Tübingen.
Und der betreibt die letzte echte Besenwirtschaft in Tübingen. Sie ist nicht nur deshalb eine besondere Institution. Existent ist sie nur dank einer Lücke in der Legislative, die sie von Abgaben und Ähnlichem befreit. Ohne diese Privilegien, so ist sich Vater Anton Brenner sicher, könnte es den Besen nicht geben. Bald schließt dieser wieder seine Pforten, die sich acht Wochen vor Ostern geöffnet haben. Das nächste Mal werden sie das im Herbst tun, zehn Wochen vor Weihnachten. Es ist ein bisschen wie an der Wurmlinger Kapelle: Glaube und Genuss scheinen irgendwie miteinander verbunden, wenn es sich um den Wein dreht.
Fotos: Marko Knab