Eine Gruppe von Tübinger Studierenden war unter den Demonstrierenden in Hamburg dabei. Sie protestierten gegen G20. Einer dieser Studierenden berichtet in diesem Beitrag von seinen eigenen Erfahrungen. Dabei ist klar zu benennen, dass es sich um einen Erfahrungsbericht handelt. Die Situation ist aus der Perspektive der Kleingruppe von Demonstrierenden geschrieben.
Über den Dächern der Altstadt drehen die Vögel ihre abendlichen Runden. Es ist schwer zu fassen, aber Ruhe umgibt Tübingen an diesem Sonntagabend.
Gestern um diese Zeit befand ich mich auf einer Kreuzung zwischen dem Schanzenviertel und St. Pauli: Hundertscharen von Spezialeinheiten marschieren in ihren Schutzanzügen vorbei. Die Polizei hat alle Ausgänge abgesperrt. Wir sind eingekesselt. Wie so oft in den vergangenen Tagen. Vor den etwa 300 Zivilisten türmen sich zwei Wasserwerfer. Die Menge skandiert: „Haut ab! Haut ab!“, immer wieder rufen sie der Polizei zu: „Ganz Hamburg hasst die Polizei“. Eine Gruppe von jungen Männern schmeißen Flaschen auf die Polizei. Die Polizisten stürmen auf die Menge zu. Panik bricht aus, die Menschen schreien, rennen davon. Links von mir ist eine Dönerbude, es herrscht reger Betrieb. Gaffer stehen mit Bier und Yufka in der Hand und betrachten die Szenerie. Manche machen Selfies von sich, Chaos im Hintergrund. Ein Mädchen sagt zu ihrer Freundin: „Das ist wie im Kino hier“, mit offenem Mund und strahlenden Augen schaut sie zu, wie Menschen von Menschen niedergeschlagen werden.
Überall sind Polizisten. Die Wasserwerfer rücken vor, zielen auf die Menge, zielen auf Köpfe, zielen auf Füße. Einige fallen hin. Am Rande des Geschehens sammelt ein alter Mann mit einer blauen Tüte die überall herumliegenden Pfandflaschen auf. Eine Frau und ihr Freund wollen raus aus dem Gewimmel. Ihr Freund hält sie fest an der Hand. Es ist zu spät. Auch sie werden von der Polizei eingeholt. Ohne Vorbehalte schlägt ein Polizist der zierlichen Frau ins Gesicht. Er tut seine Pflicht. Sie liegt auf dem Boden, ihr Freund versucht ihr zu helfen. Sie rührt sich nicht. Der Polizist stürmt weiter.
Später wird Olaf Scholz, Hamburgs Oberbürgermeister, von einem „heldenhaften Einsatz der Polizei“ sprechen. In den Medien wird von brutalen Demonstrationen gesprochen. Die Demonstrierenden hätten die Situation zum Eskalieren gebracht. Ich muss schmunzeln. War es nicht die Polizei, die am Donnerstagabend, die „Welcome to Hell – Demo“ ohne Vorwarnung angriff? Keine Unterschiede machte, jeden niederzuknüppeln versuchte? War es nicht die FAZ, die später kommentieren sollte, dass wer sich Hölle wünsche, auch Hölle bekäme?
Den Demonstrierenden wurde das Leben so schwer wie nur möglich gemacht. Das Camp Alturna, indem unter anderem auch Tübinger Studierende übernachteten, war mehrere Male vom Abbau bedroht. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man Nachts um drei von aufgeregten Menschen und einem lediglich 20 Meter über dem Camp fliegenden Hubschrauber geweckt wird, seine Sachen zusammenpackt und darauf wartet, dass jeden Moment Polizisten ins Camp stürmen, dich niederknüppeln, dir deine Sachen wegnehmen. „Ich kann nicht glauben, dass die Polizisten und wir wirklich Mitbürger sind“, sagt Marcus, ein 22-jähriger Dresdner.
Ja, mir ist klar, dass die Demonstrierenden oft genug auch selber zur Eskalation beigetragen haben. Mir ist auch klar, dass ich als Demonstrierender keinen objektiven Blick auf die Geschehnisse haben kann. Aber das Vorgehen der Polizei war an vielen Stellen verfassungswidrig und nicht verhältnismäßig, so zum Beispiel das Vorgehen gegen die Camps. Die Berichterstattung der etablierten Medien sind ein Affront gegen jeden, der in Hamburg demonstriert hat. Nicht nur, weil die Mehrheit der Demonstrierenden friedlich war, sondern, weil die G-20 Berichterstattung tendenziös und staatsaffin war. So wurde unter anderem in einem Bericht von N24 eine friedliche Demonstration als „Solidarisierung der Bürger“ mit der Polizei dargestellt, dabei war die Situation weder eine Solidarisierung, noch wurde sie von Hamburger Bürgern ausgeführt. Es waren Demonstrierende, die die Polizei mit einer friedlichen Blockade und viel Redearbeit dazu brachten, ihre Wasserwerfer abzuziehen. Tübinger Studierende gehörten zu diesen Demonstrierenden. Sie überzeugten die Polizei mit Hilfe von parlamentarischen Beobachtern der Partei „Die Linke“ von einer friedlichen Lösung. Davon wurde nicht berichtet. Unter diesen Umständen kann nicht von neutraler Berichterstattung gesprochen werden.
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