Identität – der Begriff wird im Alltag häufig verwendet. Allerdings fällt es oft schwer, in Worte zu fassen, was Identität genau ist. Deshalb haben wir mal nachgefragt, bei Jan Hinrichsen, empirischer Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Uhland Institut Tübingen.
Herr Hinrichsen, würden Sie sagen, die Frage „Wer bin ich?“ ist die Frage nach Identität?
Ich würde sagen, es ist die Suche nach Identität. Allerdings sollten wir uns dabei „Identität“ nicht als etwas Gegebenes vorstellen, dass wir nur freizulegen hätten, sondern die Aufmerksamkeit darauf richten, dass Identität vielmehr etwas ist, dass wir permanent herstellen, hervorbringen, aufführen, neu erfinden. Identität, also wer wir selbst sind, sein wollen und können, müssen wir uns als Aufgabe und nicht als „Ergebnis“, vorstellen – als einen Prozess der Selbstreflexion, in dem wir hervorbringen, wer wir sein wollen.
Wir verstehen kulturelle Identitäten nicht als Gegebenes, sondern als offene Aushandlungsprozesse.
Welche Rolle spielt Identität in der Empirischen Kulturwissenschaft (EKW)?
Die EKW schaut weniger auf individuelle, als vielmehr kollektive Identitäten, denen wir uns mit dem Begriff der Kultur annähern. Das bedeutet, wir verstehen kulturelle Identitäten nicht als Gegebenes, sondern als offene Aushandlungsprozesse, als „imagined communities“. Diese Perspektive ermöglicht auch ein Verständnis für die Vielschichtigkeit von Identität, für ihre Fragilität, ihre Fluidität. Kulturelle Identität ist gestaltbar, sie ist hybrid, ambivalent.
Gleichzeitig ist sie ein machtvolles Konstrukt, ein Schlüsselbegriff in gesellschaftlichen Anerkennungskämpfen, in den sogenannten „politics of identity“ – also weit mehr, und weit mächtiger, als ein beliebiges Konstrukt: Ein Konstrukt mit Wirklichkeitseffekten, das über gesellschaftliche Zugehörigkeit, Teilhabe, Sichtbarkeit und Anerkennung entscheidet.
Wie entsteht Identität?
Die Frage nach der Entstehung impliziert, dass wir „eine“ Identität „bekommen“, die dann fixiert und eindeutig ist. Das Problem steckt im Begriff der Identität selbst, der suggeriert, dass es einen wahren Kern gäbe, mit dem es sich abzugleichen gilt. Aber die Prozesse der Sozialisation sind nie abgeschlossen und haben kein klares „Ziel“.
Welche Faktoren beeinflussen dann die Identitätsbildung?
Wir sind durch die unterschiedlichsten Einflüsse geprägt. Schule und Bildung, Familie und Freunde, Wohnort, Arbeit usw. Diese Einflüsse schreiben sich in uns ein – in unser Denken, unser Handeln, unsere Körper. Sie fixieren uns einerseits, andererseits ermöglichen sie uns, über uns und unser Sein zu reflektieren.
Identität ist also weniger statisch als vielmehr dynamisch?
Genau. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine Identität „haben“, dann sollten wir uns dieses „Haben“ als Prozess vorstellen. Wer wir sind, wer wir sein wollen, aber auch wer wir sein können, ändert sich permanent. Und zwar nicht im Sinne von einer stabilen Identität zur nächsten, sondern als andauerndes Werden. Als eine nie abgeschlossene Produktion unserer Selbst über das was wir tun, sagen, wie wir uns kleiden, was wir mögen, wie wir über uns nachdenken. Gleichzeitig hat unsere Sozialisation erheblichen Einfluss darauf, wie wir im sozialen Raum positioniert sind und wie und wohin wir uns darin bewegen können.
Das Problem steckt im Begriff der Identität selbst, der suggeriert, dass es einen wahren Kern gäbe.
Und wie frei ist man in seiner Identitätsbildung?
Das ist eine besonders schwierige Frage. Das bisher Gesagte könnte den Eindruck erwecken, als handle es sich bei Identität um ein restlos beliebiges Konstrukt. Das ist allerdings nicht richtig. Wir sind zwar Produkte unserer Selbst, aber unser Selbst müssen wir wiederum als Produkt der Gesellschaft verstehen – gesellschaftlicher Anforderungen, Deutungen, Zwänge, Urteile.
Das lässt sich an der Geschlechtsidentität gut nachvollziehen. Kulturwissenschaftlich betrachtet ist das Geschlecht eine Performanz, auch das vermeintlich „natürliche“ oder „biologische“ Geschlecht. Allerdings sind es gesellschaftliche, kulturelle Machtverhältnisse, die entscheiden, was es heißt ein Mann bzw. eine Frau zu sein, was es heißt, in einem entsprechend geschlechtsmarkierten Körper zu leben.
Denken Sie, dass der Frage nach Identität heutzutage mehr Bedeutung beigemessen wird als früher?
Es lässt sich auf der individuellen Ebene sicherlich sagen, dass es einen zunehmenden Zwang zur Individualisierung gibt. Jeder soll „sich selbst finden“, „man selbst sein“. Wir sind scheinbar dazu angehalten, ständig jemand sein zu müssen, jemand besonderes, einzigartiges.
Und welche Fragestellungen verfolgt man in der EKW in Hinblick auf Identität?
Die EKW richtet ihr Augenmerk nicht auf die Frage nach dem Wesen, der Essenz, oder der faktischen Existenz von kultureller Identität. Sondern fragt nach den Prozessen, in denen sie hervorgebracht und wirkmächtig werden. Sie analysiert die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse und deren Effekte auf die soziale Realität – nimmt sie also nicht als selbstverständlich hin, sondern, eben ganz EKW, hinterfragt die vermeintliche Selbstverständlichkeit unseres Alltagslebens.
Titelbild: Andrej Stern
Foto: Raphael Reichel