Meşale Tolu & Sharo Garip: Kein “Taktieren mit Diktatoren“ mehr

Die politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland sind seit Jahren zerrüttet. Die Türkei scheint sich mehr und mehr in ein totalitäres System zu verwandeln, und trotzdem gibt es immer noch Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und Erdogan. Zum Thema gab es gestern einen von Die Linke organisierten Vortrag mit Meşale Tolu und Sharo Garip.

„Ich war ein Spielball zweier Regierungen“ – Meşale Tolu, Journalistin aus Ulm, ist nach 17 Monaten in türkischer Haft wieder zurück „im Schwabenländle“, wie sie schmunzelnd sagt. Gestern erzählte sie zusammen mit Sharo Garip, Dozent an der Universität Köln, von ihren Erlebnissen und gab den Zuhörern einen tieferen Einblick in die heutige Situation der Türkei. Heike Hänsel, stellvertretende Vorsitzende der Bundesfraktion Die Linke, hatte die beiden eingeladen, um unter dem Titel „Deutsche Türkeipolitik – Normalisierung der Beziehungen?“ ihre Sicht der Dinge darzulegen und Lösungsvorschläge zu bieten.

In der Aula des Keplergymnasiums in der Uhlandstraße fanden sich die Interessierten ein.

Bereits zu Beginn der Veranstaltung stellte Thomas Volkmann vom „Tübinger Bündnis für Demokratie in der Türkei“ in der Begrüßung fest: „Solange der Zustand anhält, so meinen wir, kann es keine normalen Beziehungen zu der Türkei geben“. Den von Volkmann genannten Zustand beschreiben in den darauffolgenden Minuten Tolu und Garip genauer. Meşale Tolu sprach von einer Gleichschaltung der türkischen Medien. Selbst die Zeitung „Cumhuriyet“, für welche der durch die Medien bekannte Can Dündar gearbeitet hatte, stünde nun nach langem Widerstand unter rechter, regierungsnaher Führung. Auch im Internet fände Zensur statt: Wikipedia sei seit Jahren schon in der Türkei gesperrt. Man könne „nicht davon sprechen, dass der Ausnahmezustand zu Ende sei“, so Tolu.

Keine Spur von „Versöhnungskurs“

Die Journalistin kritisierte außerdem, wie ihre Freilassung als Einleitung eines „Versöhnungskurses“ zwischen den beiden Ländern hingestellt wurde, doch das sei „nur ein Schein“. Die Realität sähe ganz anders aus. Dieser Punkt kommt im späteren Verlauf nochmal zur Sprache, denn obwohl Meşale Tolu und Sharo Garip nun in Freiheit leben gibt es für sie wenig Grund zu feiern: Etliche Kollegen, Journalisten, Anwälte und andere Oppositionelle sitzen immer noch in türkischer Haft. Unter ihnen ist auch der österreichische Journalist Max Zirngast. Um Aufmerksamkeit zu generieren, li sich Tolu nach Ende der Veranstaltung mit einem Plakat, das zur Freilassung Zirngasts aufruft, fotografieren. Denn sie weiß, was in solch einer Situation am meisten bewirkt, und betont es mehrmals während des Vortrags: „Ohne die Öffentlichkeit wäre ich jetzt noch in der Türkei.“ Dass die Bundesregierung nur dann reagiere, wenn der öffentliche Druck zu groß geworden war, sei „heuchlerisch“, so Tolu.

#freemaxzirngast: Meşale Tolu erfuhr am eigenen Leibe wie wichtig der öffentliche Druck aus der Bevölkerung und die Unterstützung für ihre Freilassung war.

Tolu schilderte ihre unglaublichen Erlebnisse in der Türkei – von Nachtrazzien über ihre Entführung durch die türkische Antiterroreinheit, die Hänsel mit einer „Szene aus einem schlechten Actionfilm“ vergleicht.

Doch auch Sharo Garip hat schlechte Erfahrungen gemacht. Garip war Dozent an der türkischen Universität Van, bis er den Aufruf der „Akademiker für den Frieden“ unterzeichnete. Danach war er im Fokus der türkischen Antiterroreinheit.

„Totalitarismus ist ansteckend. Wir müssen vorsichtig sein!“

Ihn ereilte also nicht das gleiche Schicksal wie Meşale Tolu oder Can Dündar, jedoch war auch er in seinem Leben stark eingeschränkt. Ihm wurde verboten, sowohl an einer türkischen als auch an einer deutschen Universität zu lehren, doch eine konkrete Verhandlung wurde ihm auch nicht erteilt. Und auch sonst fühlte er sich, wenn er die Straßen entlang lief, nicht frei: „Ich musste immer schauen, ob ich verfolgt werde“.

Garip, ganz der Akademiker, hatte eine Präsentation mit Zahlen zum Putschversuch 2016 dabei. Die Bilanz war unter anderem etwa 70.000 verhaftete türkische Studierende. Zum Vergleich: In Tübingen studieren derzeit 27.000.

Sharo Garip: „Man kann nicht mit zweierlei Maß messen – Menschenrechte oder Rüstungsexporte?“

Garip kritisierte den Mangel an Sanktionen, nicht zuletzt von der Bundesregierung. Er beruft sich auf den Fall Böhmermann und bezeichnet diesen als „Abbau der Demokratie“ in Deutschland. Für ihn ist klar: „Nicht Böhmermann sollte vor Gericht stehen, sondern Erdogan“. Mit „Diktatoren zu taktieren“ bringe letztendlich negative Konsequenzen für Deutschland. Man müsse statt in Krieg in das Friedensgeschäft investieren.

 „Wenn man nichts macht, passiert auch nichts!“

Das allgemeine Fazit, oder die „Botschaft des Abends“, wie Heike Hänsel es ausdrückte, war also: Schluss mit der stillen Diplomatie, es muss etwas getan werden. „Finanzmittel und blutige Rüstungsexporte stoppen“, so Hänsels Devise. Und auch Meşale Tolu ist der Meinung: Lieber etwas tun, statt passiv alles geschehen lassen.

Fotos: Daniel Böckle

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