Am Freitagabend holte sich die SPD für ihre Diskussion zum maschinellen Lernen namhafte Fachleute auf’s Podium. Bei einem mäßigen Zustrom an Interessierten sprachen sie über das Cyber Valley und künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt.
Für die einen ist es wohlklingende Zukunftsmelodie, für die anderen eine unsägliche Kakophonie überdrehter Fachbegriffe: Das Thema künstliche Intelligenz bewegt die Menschen. Auch in Tübingen ist die Debatte um Cyborgs, autonomes Fahren und digitalisierte Pflege längst angekommen. Kontroversen Zündstoff bietet vor allem das umstrittene Großprojekt Cyber Valley, eines der größten im Bereich der künstlichen Intelligenz in Europa. Doch die Rechnung der Veranstalter schien zunächst nicht aufzugehen: Gerade einmal ein Viertel der Sitzplätze war an diesem Abend besetzt. Der Freitagabend scheint nicht die Prime-Time für politische Diskussionen zu sein – vor allem nicht für die Generation U-30.
Machine Learning: Revolution oder alter Hut?
Doch von Beginn an: Durch die Diskussion leitete an diesem Abend Dr. Dorothea Kliche-Behnke, Kreisvorsitzende der SPD. Obwohl Kliche-Behnke betonte, dass nicht alle Diskuntant*innen aus dem sozialdemokratischen Umfeld kommen, ließ sich ein Ungleichgewicht nicht abstreiten. Drei der vier Teilnehmer*innen sind für die SPD aktiv, Kliche-Behnke selbst nicht mitgezählt. Auf dem Podium diskutierten Werner Walser, Vorsitzender des Ortsvereins der Tübinger SPD und Dekan an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg. Zu seiner Linken saß Gisela Grabe. Die Fachinformatikerin engagiert sich ebenfalls für die SPD. Für die anstehende Kreistagswahl hält sie einen Listenplatz. Auch zu Gast an diesem Abend war Welf Schröter. Er ist Leiter des Forums „Soziale Technikgestaltung“. Ihm war vor allem eine Einordnung der Debatte in den gesellschaftspolitischen Diskurs wichtig. Einziger Nicht-SPDler war der Tübinger Professor Phillip Hennig. Er hat den internationalen Studiengang „Machine Learning“ in Tübingen mitkonzipiert und leitet den Lehrstuhl für Methoden des Maschinellen Lernens.
In ihrer kurzen Eröffnungsrede steckte Kliche-Behnke den Rahmen für den Abend ab. Diskutiert werden sollten die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auch einen der Hauptkritikpunkte am Cyber Valley machte sie bereits deutlich: Die Menschen haben das Gefühl, das Thema werde nicht ausreichend diskutiert. Viele fühlen sich übergangen.
Mit einem zwanzigminütigen Vortrag führte Prof. Hennig in die Thematik der künstlichen Intelligenz ein. Er bemühte sich, die Materie auch für den Laien greifbar zu machen. Stellenweise kam ihm dabei allerdings die Komplexität der Problematik in die Quere. Sein Anspruch an diesen Abend: Er möchte neutral bleiben und sich der Polarisierung der Debatte um künstliche Intelligenz entziehen.
Immer wieder betonte Hennig, dass die Grundidee nicht neu sei. So revolutionär wie künstliche Intelligenz von mancher Stelle angepriesen werde, sei sie keineswegs. Tatsächlich lasse sie sich sogar bis ins 14. Jahrhundert nachvollziehen. Auch den teilweise fantastischen Ideen, die zweifelsohne im Raum stehen, erteilte er eine klare Absage. Lernende Maschinen seien immer vom Menschen abhängig, nicht umgekehrt.
„Das Problem sitzt vor dem Bildschirm“
Nach den wissenschaftlichen Fakten ergriff Welf Schröter das Wort. Sein Vortrag erinnerte an eine Zeitreise. So erzählte er von Valentin Braitenberg, seiner Zeit bedeutender Tübinger Kybernetiker. Dieser überzeugte Schröter zu Studienzeiten von der Notwendigkeit der künstlichen Intelligenz. Ganz abgewöhnt habe sich Schröter eine kritische Sicht auf die Dinge allerdings nie. Er ist überzeugt: Wer von Technik betroffen ist, der müsse sich auch in die Technik einmischen dürfen – und zwar von Anfang an. Auch er bestritt die Neuheit der Debatte. Was einst smart war, hieß später 4.0 und wird heute künstliche Intelligenz genannt. Er sprach von einer „nachholenden Digitalisierung“. Vieles werde lediglich als neu empfunden. Schröter wünschte sich einen Paradigmenwechsel in der Debatte: „Das Problem sitzt vor dem Bildschirm.“
Trotz der teilweise flapsigen Kommentare von Schröter, war es streckenweise schwierig, ihm zu folgen. Man hatte das Gefühl, er wolle alles sagen, was ihm auf dem Herzen liegt – am besten in möglichst wenig Zeit. Auch Kliche-Behnke schien das zu spüren und eröffnete die Diskussio. Sie begann mit einem Thema, das schnell zum Kernthema der Diskussion avancierte: die Angst vor negativen Folgen von maschinellem Lernen. Gisela Grabe hielt eine gesunde Portion Skepsis gegenüber dem Thema für geboten. Bei dieser Gelegenheit erwähnte sie auch die Besetzung des Kupferbaus Ende 2018. Sie begrüßte die Debatte, die durch diese Aktion entflammt ist. Walser pflichtete ihr bei. Er verwies auf Entwicklungen in China, wo selbst die Konzentration von Schülern aufgezeichnet wird. Trotzdem halte er künstliche Intelligenz für nicht aufhaltbar. Man müsse sich fragen, wie man mit dieser zwangsläufigen Entwicklung am besten umgeht.
Eine Gewerkschaft für künstliche Intelligenz
Schröter griff diesen Gedanken auf und rückte die Diskussion wieder in die Nähe der Arbeitswelt. Er warf ein, „dass wir es mit einem strukturellen Wandel des Orts ‚Betrieb‘ zu tun haben.“ Immer mehr Arbeitnehmer*innen hätten einen Betrieb noch nie von innen gesehen. Sie würden keinerlei Schutz von Betriebsräten erfahren. Solche Entwicklungen müssten Teil des gewerkschaftlichen Diskurses werden. Soziale Standards im Bereich künstliche Intelligenz seien dringend nötig.
Daraufhin sprach Kliche-Behnke die Risiken des maschinellen Lernens an. Vorwürfe nach einer Beteiligung an Rüstungsforschung wies Hennig aber entschieden zurück. Die Präambel der Grundordnung der Uni Tübingen lasse so etwas gar nicht zu. Walser schloss sich ihm an, relativierte allerdings: Im Cyber Valley werde Grundlagenforschung betrieben. Was damit geschehen darf und was nicht, müssten Gesetze festlegen.
Digitalisierung im Lehrplan
Nach anderthalbstündiger Diskussion war das Plenum an der Reihe. Trotz der eher spärlichen Zahl an Zuhörer*innen, meldeten sich viele Interessierte zu Wort. Dabei stellte sich besonders die Schwierigkeit, konkrete Fragen zu formulieren – sicherlich ein Nebeneffekt des komplexen Sachverhalts. Die Diskutant*innen ließen sich davon jedoch nicht beirren und gingen auf einzelne Punkte näher ein. Sie waren sich einig, dass junge Menschen früh an die Thematik herangeführt werden müssen. Grabe sprach sich dafür aus, Digitalisierung zum festen Bestandteil des Lehrplans zu machen. Schröter hingegen war sich unsicher, wann der richtige Zeitpunkt ist, Kinder mit dem Thema vertraut zu machen. Zustimmung dafür erhielt er von einem pensionierten Sonderschullehrer aus dem Publikum. Dieser empfindet einen Niveauverlust der Leistung bei Schulkindern, herbeigeführt durch die Digitalisierung.
Die Debatte hat vor allem eines gezeigt: Maschinelles Lernen ist weder neu noch vom Himmel gefallen. Die Gesellschaft steht vor der Herausforderung, Antworten auf ungelöste Fragen zu finden. Diese betreffen vor allem die Arbeitswelt, ein Bereich, der an diesem Abend aufgrund der kontroversen Diskussion nicht immer in ausreichendem Maße im Blick war.
Fotos: Heinz Haußmann
Foto Transparent: Leo Schnirring