"Ein total krankes und perverses System"

Prostitution wird in unserer Gesellschaft akzeptiert. Es gibt sogar Strukturen, die Prostitution stützen, meint Marie Kaltenbach. Zusammen mit der Kindheitspädagogin Sarah Kim klärte sie über Prostitution auf. Eingeladen hatte die beiden Aktivistinnen von Sisters e.V. der Tübinger Verein Querfeldein. Am Montag, den 25.11.2019 erklärten sie im Ribingurumu, wie die rechtliche Lage in Deutschland ist, welche Personen betroffen sind und was es für die Menschen in diesem System bedeutet.

Zum ersten Mal mit Prostitution in Berührung gekommen sei Marie Kaltenbach während ihres Bachelors in Politikwissenschaft. Für ein Seminar, in dem es um Frauenrechte ging, habe sie ihre Hausarbeit über Prostitution schreiben wollen. Bei der Recherche sei sie dann auf öffentliche Foren gestoßen, in denen Freier die Frauen ganz ungeniert und in abwertender Form bewerten. „Das hat mich echt aus den Latschen gehauen“, so Marie. 

„Wenn man einmal drin ist, kommt man nicht mehr raus“

Wie genau Prostitution definiert wird, darüber hatte sich Marie noch gar keine Gedanken gemacht. Das Prostitutionsgesetz definiert sie als „Sex gegen Geld“. Für Marie ist Pornographie allerdings auch sehr an Prostitution gebunden, da dort ein bestimmtes Frauenbild transportiert werde. Das Prostitutionsgesetz ist 2002 in Kraft getreten. Seitdem seien in Stuttgart die Großbordelle aus dem Boden geschossen, erklärt Sarah Kim. Geschätzt gibt es zwischen 200.000 und 1 Millionen Prostituierte in Deutschland. Einen Beitrag dazu, dass die Zahlen so ungenau sind, leistet die Tatsache, dass die Frauen oft nach nur wenigen Wochen in ein neues Bordell gebracht werden. „Die Freier wollen Frischfleisch“, so Marie. Außer „wenn sie viel abwerfen“, ergänzt Sarah – dann könne es auch vorkommen, dass die Frauen länger an einem Ort bleiben. 

Die Aktivistinnen Marie Kaltenbach und Sarah Kim von Sisters e.V. klären über Prostitution auf. Im Bild: Sarah Kim.

Hauptsächlich kommen diese Frauen aus Süd- und Osteuropa. „95 % sind importiert aus Ländern, in denen es den Frauen schlechter geht“, erklärte sie. Viele Frauen geraten aus Instabilität in das System. Immer noch angewendet wird die sogenannte „Loverboy Methode“. Männer gehen auf junge Frauen zu und bauen eine emotionale Bindung auf. Wenn die Frauen noch nicht eingeschüchtert genug seien, würden sie „vorher schon mal vergewaltigt und zurecht gebogen“, so die Kindheitspädagogin. Die Frauen würden zudem noch komplett isoliert. Ihr komplettes soziales Leben spiele sich in dem System der Prostitution ab. Selbst wenn Frauen länger an einem Ort blieben, sähen sie meist immer nur die selben Straßenzüge. „Das kann man sich in dem bravem, bürgerlichem Tübingen nicht vorstellen“, sagt Marie dazu. 

„Das schwierigste ist, ran zu kommen“

Sisters e.V. setzt sich aktiv für den Ausstieg aus der Prostitution ein. Das schwierigste sei dabei die Kontaktaufnahme. Man gehe vormittags in die Bordelle, denn „abends ist man dort nicht gerne gesehen“, so Sarah. Das Ganze habe nichts mit einem normalen Beruf zu tun. Wenn die Frauen den Wunsch äußern würden, raus zu wollen, würden sie sofort von Sisters e.V. rausgeholt. Mittlerweile habe der Verein auch eine Aussteigerwohnung. Das wichtigste sei es, die Frauen aus diesem sozialem System raus zu holen. In diesem Punkt versagen die Hilfsorganisationen vor Ort. Die Aussteigerprojekte würden so gut wie ausschließlich von privaten Initiativen angeboten. Das schwierige seien auch die Gesetze. Diese würden zwischen Zwangsprostitution und „guter“ Prostitution trennen.

 1,7 Millionen Menschen (hauptsächlich Männer) kaufen Sex, so die Aktivistin Marie Kaltenbach.

Der Umsatz in der Branche beläuft sich auf 13-15 Mrd. Euro jährlich. Dies sei mehr als die Textilindustrie in Deutschland erwirtschaftet, so Sarah. 

Viele Freier wissen was sie tun

„Der Freier kauft eine Illusion“, meint Sarah. Die Illusion, dass diese Frau den ganzen Tag nur auf ihn gewartet habe.  Viele Freier bekämen auch mit, dass es den Frauen nicht gut geht. Allerdings überwiege das Gefühl, dass man schließlich dafür gezahlt habe. Dass sie sich das „Ja“ nur erkauft haben, ist ihnen bewusst, doch auch beim Sexkauf gilt für sie das Motto „Ich bin Kunde, ich bin König“. Für die Frauen ist vor allem dieser Freierkontakt das zermürbende. Jeden Tag 10-20 Mal erniedrigt zu werden, hinterlässt Traumata wie sie bei Kriegsveteranen und Folteropfern zu finden sind, erklärt Sarah. Die Prostituierte übernimmt dann das Bild, dass sie nichts anderes verdient habe.  Diese Einstellung macht einen Ausstieg aus dem System enorm schwierig. Dieser gelingt leider meist nur, wenn der Ekel und der Selbsthass bei den Frauen zu groß wird.

Sisters e.V. würde das sogenannte „nodrische Modell für Prostitution“ bevorzugen.

Wir haben hier im Land ein verschobenes Bild von Prostitution

Eine Alternative zu den deutschen Gesetzen, die von Sisters e.V. präferiert wird, ist das sogenannte nordische Modell für Prostitution.  Erstmals eingeführt wurde es 1999 in Schweden. Es kriminalisiert die Kunden der Prostitution. Strafbar machen sich also alle außer der Prostituierten selbst. Dass Prostitution in den Ländern, in denen das Modell angewendet wird, überhaupt nicht vorkommt, sei natürlich nicht der Fall. Dennoch habe es sehr schambesetze Folgen für die Menschen, die dabei erwischt werden. Auch wird Aufklärungsarbeit bei den Freiern angeboten. Gegenwind gegen dieses Modell kommt etwa vom Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.. Nach außen transportiert dieser Verein das Bild einer selbstbestimmten Sexarbeiterin. Dass es solche Menschen gibt, streiten die Vertreterinnen von Sisters e.V. nicht ab, sie seien jedoch eine Minderheit. Die Mehrheit hat weder die Möglichkeit, noch das Bewusstsein dafür. Man brauche einen Paradigmenwechsel um 180°, so Marie. Prostitution sei falsch. Sie werde auch nicht besser, wenn die Wand glitzert. Dieses Bild müsse allerdings von unten kommen, so Sarah. Wir als Gesellschaft müssen uns die Frage stellen, was für eine Sexualität wir leben wollen. Für Sisters e.V. funktioniert Sexualität ganz klar nicht so, dass man für ein paar Euro mit dem anderen machen kann, was man will.

Weiter interessante Links:
http://ichbinkeinfreier.com/links 
https://rotlichtaus.de/

Fotos: Marko Knab

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