Dr. Bernd Jürgen Warneken ist ein waschechter Tübinger Alt-68er: Der Professor a.D. für Empirische Kulturwissenschaft studierte elf Jahre lang in Tübingen, engagierte sich im sozialdemokratischen Hochschulbund und schrieb für die Studentenzeitung „Notizen“. Im Interview erinnert er sich an diese Zeit zurück.
Herr Warneken, Sie studierten von 1964 bis 1975 in Tübingen. Was ist Ihnen aus der ereignisreichen Zeit um 1968 besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich erinnere mich ungern, aber sehr gut an eine Versammlung im überfüllten Festsaal, Anfang Juni 1967. Studierende diskutierten mit Lehrenden über den Tod von Benno Ohnesorg. Und ich war völlig entsetzt, dass renommierte Professoren, die ich bis dahin respektiert hatte, die Opfer zu Tätern erklärten und die Berliner Demonstranten mit dem „Mob“ der ’30er Jahre verglichen. Mit meiner Empörung war ich nicht allein. Mehr noch als der Mord an Ohnesorg haben die Reaktionen des „Establishments“ auf diese Tat die frühe Studentenbewegung radikalisiert.
In Ihrem Buch „Mein 68 begann 65“ schildern Sie Ihre Erinnerungen an Ihre Studentenzeit in Tübingen. Wieso begann Ihr 68 schon 1965?
Im August 1965 wurde der wahlkämpfende „Volkskanzler“ Ludwig Erhard auf dem Marktplatz mit Pfiffen und Protestplakaten empfangen. Das war damals unerhört. Ich habe beim Texten und Malen der Transparente mitgemacht. Eines lautete: „Der Pinscher Hölderlin grüßt den Volks-Abkanzler“. Erhard hatte zuvor CDU-kritische Schriftsteller als Pinscher und Willy Brandt und seine SPD als gefährliche Volksverführer bezeichnet. Unsere Protestaktion war aber nicht etwa die erste Tübinger Regung der Studentenbewegung. Die begann schon früher, mit Kundgebungen gegen den Kolonialismus in Afrika, mit der Thematisierung der unaufgearbeiteten NS-Herrschaft an der Universität durch die hiesige Studentenzeitung „Notizen“, mit einer Großdemo gegen den Bildungsnotstand. Eine Zeit lang gehörte Tübingen zur Avantgarde der Protestbewegung.
Sie waren damals auch selbst politisch aktiv. An welchen Formen der politischen Partizipation und des Protests beteiligten Sie sich?
Ich bin 1964, bald nach Studienbeginn, in den SHB eingetreten, den Sozialdemokratischen Hochschulbund. Der war damals noch parteifromm, entwickelte sich aber bald weiter nach links. Meine Pressearbeit für den SHB gab den Anstoß dafür, dass ich 1965 vom AStA zum Chefredakteur der damals offiziellen Studentenzeitung „Notizen“, gewählt wurde. Das war ich dann zwei Semester lang. Durch die Arbeit in der Redaktion lernte ich interessante Leute kennen, die mir linke Literatur von Marx bis Marcuse empfahlen – etwa Günter Maschke, Wolfram Burisch, Jürgen Peters, Katrin Pallowski. Ich näherte mich dann dem Tübinger SDS an und trat aus dem SHB aus. Demonstrationen habe ich damals viele mitgemacht, aber ich tat mich da nicht besonders hervor. In der linken Szene zählte ich zur „Theoriefraktion“. Ich half dabei, Lektürekurse zu organisieren und hielt später einige der Freien Tutorien ab, die im Streik gegen ein neues Hochschulgesetz durchgesetzt wurden.
Überhaupt habe ich die 68er-Jahre nicht zuletzt als eine Zeit des Lesens, Diskutierens, Schreibens, eines gewagten, aber ertragreichen, Selbststudiums erlebt.
Welche Themen waren Ihnen dabei wichtig und was störte Sie besonders am Status quo?
Zunächst trat ich mit der SPD für die Ost-West-Entspannung ein – etwa durch den Verzicht auf die alten deutschen Ostgebiete. Bald darauf demonstrierte auch ich, anders als die SPD, gegen die US-Intervention in Vietnam. Wie viele war ich als Bewunderer der USA groß geworden und entsetzt, welche brutale Kriegsführung diese nun praktizierten. Meine erste wissenschaftliche Publikation befasste sich mit dem Vietnamkrieg.
Aber ich wollte bzw. wir wollten nicht nur die Politik verändern, sondern auch die Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen ich eingeschrieben war: die Germanistik und die Geschichtswissenschaft.
Sie sollten sich endlich den gesellschaftskritischen Impulsen öffnen, welche die marxistisch, aber auch die psychoanalytisch beeinflusste Wissenschaft bereithielt. Und mit dieser Forderung nach Öffnung der wissenschaftlichen Diskussion sind wir ja durchaus nicht gescheitert.
Sie schreiben von einer studentischen Vollversammlung im Frühjahr 1968, bei der 3000 StudentInnen anwesend waren, und von Wahlen zum Studentenparlament im Juni 1968, bei denen sich 62,4% der StudentInnen beteiligten. Bei der studentischen Vollversammlung dieses Jahr herrschte gähnende Leere, die letztjährigen Wahlen zum Studierendenrat hatten eine Wahlbeteiligung von 12%. Haben Sie eine Erklärung für diesen riesigen Unterschied zwischen den Jahren 1968 und 2018, was die politische Partizipation von Studierenden angeht?
Man sollte relativieren: Die hohen Beteiligungen, die Sie erwähnen, wurden schon bald danach nicht mehr annähernd erreicht.
Dass Hochschulpolitik heute immer weniger Studierende interessiert, liegt – so vermute ich – zum einen an einer langen Entwöhnung.
Von 1977 bis 2012 gab es im Land keine Allgemeine Studierendenvertretung mehr. Sie war der CDU zu sehr auf die Nerven gegangen. Und die studentischen Mitbestimmungsmöglichkeiten an den Instituten wie an der Uni überhaupt sind gering geblieben. Zum andern haben viel weniger Studierende als in den 1960er Jahren eine Chance auf eine Unistelle; das mindert natürlich auch das hochschulpolitische Engagement. Hinzu kommt „Bologna“: Wir hatten früher viel mehr freie Zeit.
Finden Sie, die heutigen Studierenden sind zu unpolitisch?
Jein. Viele betätigen sich ja in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Eine verbreitete Rat- und Tatenlosigkeit in allgemeinpolitischen Fragen lässt sich allerdings nicht leugnen. Aber die 1960er Jahre haben gezeigt, wie schnell sich das ändern kann. Allerdings sicher nicht durch Appelle von Alt-68ern.
Wofür lohnt es sich Ihrer Meinung nach heute, 50 Jahre nach 68, zu kämpfen?
Oh, das würde jetzt eine lange Liste. Was ich – jetzt nicht als Alt-68er, sondern als alter Kultursoziologe – für AkademikerInnen besonders wichtig finde:
nicht nur den Rassismus, sondern auch den oft unbewussten Klassenrassismus überwinden. Beziehungen zu anderen kulturellen Milieus und Sozialschichten anknüpfen – im Alltag und in der wissenschaftlichen Tätigkeit.
Das verbessert dann auch die Chancen für gemeinsames politisches Handeln.
Vielen Dank für das Interview!
Foto 1: Metz
Foto 2: Warneken
In seinem 2018 erschienen Buch „Mein 68 begann 65“ erzählt Bernd Jürgen Warneken auf 230 Seiten seine Erinnerungen an die Umbruchjahre in Tübingen nach.