Menschenrechte in der Textilbranche – Ganz schön FAIRstrickt!

„Wer bezahlt den Preis der Mode?“ Unter dieser Fragestellung haben sich über 20 Organisationen zusammengetan und in Tübingen eine Woche zum Thema faire und nachhaltige Mode auf die Beine gestellt. Einer der Höhepunkte war die Podiumsdiskussion mit Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, dem Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh und Thomas Seibert von medico international. Was klar wurde: Es muss sich etwas ändern.

„Ich möchte nicht, dass noch eine Mutter ihren Sohn verliert. Deshalb will ich Gerechtigkeit.“ Die Zuhörer*innen im Saal des Weltethos-Institut sind mucksmäuschenstill, als Sarah Kentner mit ihrer Stimme am Donnerstagabend den Worten von Saeeda Khatoon Gehör verleiht. Es ist kein typischer Anfang für eine Podiumsdiskussion und ganz sicher keiner für zarter Gemüter.

Saeeda Khatoon verliert am 11. September 2012 ihren Sohn, der mit 258 anderen ArbeiterInnen bei einem Brand in einer Textilfabrik in Karachi, Pakistan, ums Leben kommt. Die Notausgänge waren verschlossen, der Brand ein vermeidbarer Unfall, das Gebäude gar nicht offiziell als Fabrik registriert. Es gehört der Firma Ali Enterprises, welche vor allem an einen großen Hersteller liefert: Das deutsche Modeunternehmen KIK. Sechs Jahre vergehen bis Saeeda Khatoon endlich gegen KIK vor Gericht ziehen kann. Und dann wird die Klage vom Gericht in Dortmund wegen Verjährung abgewiesen.

Unfälle wie bei Ali Enterprises sind nur die Spitze des Eisbergs. Deswegen ging es am vergangenen Abend darum, was sich politisch ändern muss, damit unwürdige Arbeitsbedingungen und ausbeuterische Verhältnisse in der Textilbranche nicht mehr zukunftsfähig sind. Auf dem Podium saß die Tübinger Abgeordnete und Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, der badische Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh und Thomas Seibert von der Menschenrechtsorganisation medico international. Dass gegen die systematische Verletzung von Menschenrechten in den Zulieferungsketten der Textilindustrie vorgegangen werden muss, darüber waren sich die drei Gäste einig. Ihre Kritik galt jedoch verschiedenen Punkten.

„Wieso werden Lebensmittel zurückgerufen, wenn von ihnen Gefahr ausgeht, Klamotten aber nicht? Menschenrechtsverletzungen sind ein enormer Fehler in der Produktionskette!“, beklagt Mitorganisatorin Hanna Smitmans.

Seibert nahm die Bundesregierung scharf in die Kritik dafür, viel zu lange und immer noch viel zu viel auf freiwillige Selbstverpflichtung zu setzen: „Wir brauchen gesetzliche Regelungen. Diese sind allerdings zahnlos, wenn sie nicht sanktionsbewehrt sind. Wir brauchen hohe Bußgelder für Unternehmen und es muss möglich sein, verantwortliche Individuen zur Rechenschaft zu ziehen!“ Der KIK-Prozess habe die Debatte um Konzernverantwortlichkeit vorangebracht, obwohl er zum Nachteil der Kläger*innen endete. Immerhin gebe es neben dem freiwilligen Textilbündnis, welches von Gerd Müller, Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit, vor Jahren ins Leben gerufen wurde, nun auch halboffizielle Pläne für ein richtiges Gesetz.

Nationale Lösungen für globale Probleme?

Über den Stand dieses „Sorgfaltspflichtengesetz“ berichtete Frau Widmann-Mauz. Unternehmen sollen dabei zur Einhaltung der Menschenrechte innerhalb ihrer globalen Wertschöpfungskette, also auch bei Fabriken wie der von Ali Enterprise in Pakistan oder etwa Rana Plaza in Bangladesch, verpflichtet werden. Im Rahmen des „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ beginne jedoch zunächst eine Monitoring-Phase, bei der die aktuelle Situation in den Textilunternehmen beobachtet werde. Nach einer Evaluation nächstes Jahr werde dann entschieden, ob die freiwilligen Bemühungen ausreichen, oder ob der Gesetzgeber tätig werden muss. „Freiwillige Maßnahmen bringen sehr wohl etwas“, verteidigt die Ministerin für Integration, Flüchtlinge und Migration den oft von der CDU favorisierten Ansatz, bei dem sich jede Industrie ihre eigenen Standards setzen kann. „Außerdem leben wir längst im europäischen Binnenmarkt, da man nicht mehr alles auf nationaler Ebene lösen kann.“ Für die kommende deutsche Ratspräsidentschaft im Ministerrat der EU (zweite Hälfte 2020) seien Menschenrechte und Arbeitsbedingungen auf globaler Ebene ein wichtiges Thema.

Die Fragen der ZuschauerInnen zu beantworten ist gar nicht so einfach, wie die angestrengten Blicke deuten lassen. Nachgehakt wurde zum Thema (demokratischer) Systemwechsel, Deutschlands Rolle in der UN und Kakao ohne Kinderarbeit.

Warum „ethische Akrobatik“ wichtig ist

Cornelius-Bundschuh eckte weniger an mit seinen Aussagen. Er betonte, dass die Kirche zusammen mit kirchlichen Organisationen wie Brot für die Welt vor allem ein Bewusstsein für die Thematik schaffen möchte. „Gewerkschaften und Zivilgesellschaft wollen wir stärken!“, bekräftigte der Bischof der evangelischen Landeskirche in Baden. Auch in eigenen Einrichtungen versuche man ökologisch, fair und sozial zu konsumieren. Seibert von medico international bezeichnete den Konsum von fairem Kaffee oder Kakao, welche von Cornelius-Bundschuh und Widmann-Mauz sehr gelobt wurden, als „ethische Akrobatik“: Es reiche nicht, sei aber trotzdem wichtig, „denn dann wird nachgedacht, dann wird darüber gesprochen“.

„Cool, aber tödlich“: Aufrüttelnden Lesestoff zur weiteren Information legte Marieke Kodweiß vom Entwicklungspädaogischen Informationszentrum (EPiZ) in Reutlingen aus. Auch für die Gewerkschaft der ArbeiterInnen in Bangladesch wurde in der Woche Spenden gesammelt.

„Gucken Sie in einem Jahr wieder hin!“

Über die Frage, ob Selbstverpflichtungen der Wirtschaft oder gesetzliche Regeln und hohe Bußstrafen sinnvoller seien, wurden sich Seibert und Widmann-Mauz auch am Ende nicht ganz einig. „Wir brauchen eine Lösung, die in der Praxis funktioniert“, betonte Widmann-Mauz. Eine der Organisator*innen merkte in der anschließenden Fragerunde an, dass sich sogar Unternehmen wie KIK aus Wettbewerbsgründen für strengere gesetzliche Vorgaben und klare juristische Grenzen einsetzten. Denn wenn sich alle an strengere Vorgaben halten müssten, hätte keiner mehr einen Wettbewerbsnachteil. Der Bischof riet den Anwesenden, das Sorgfaltspflichtengesetz weiter zu verfolgen: „Sie müssen sich verabreden, um in einem Jahr wieder hinzugucken!“

„Ein sehr komplexes Thema“, schlussfolgerte die Moderatorin der Debatte, Miriam Hitzelsberger. An den anschließenden Gesprächen im Raum ließ sich jedoch leicht erkennen, dass eine Sache den Anwesenden sehr klar wurde: Die massiven Verstöße gegen Menschenrechte, Arbeitnehmer*innenrechte und Umweltschutz müssen ein Ende haben. Ganz ohne gesetzliche Vorgaben liegt das Schicksal der Betroffenen im globalen Süden vermutlich noch lange im Ungewissen.

Neben entwicklungspolitischen Inititiativen wie Engagement Global oder dem EPiZ haben auch der Tübinger Weltladen, das Werkstadthaus und die Stadt Tübingen die Aktionswoche „FAIRstrickt“ unterstützt.

Die „FAIRstrickt“-Aktionswoche geht noch bis zum 4. Mai. Interessierte können sich das Programm hier herunterladen. Weitere Veranstaltungen sind zum Beispiel:

  • Freitag, 3. Mai: Round Table: Verloren im Konsumdschungel: Zwischen Fast-Fashion, Zertifizierungen und moderner Sklaverei (Weltethos-Institut, 18.15 Uhr)
  • Samstag, 4. Mai: Arbeitsbedingungen und Gewerkschaftskampf in Bangladesch: Film und Diskussion (Stadtbücherei Tübingen, 11.00 Uhr)

Zum Thema faire Kleidung findest du hier weitere Links:

Kampagne für saubere Kleidung
„Welchem Siegel kann ich trauen?“ bei femnet
„Tödliche Textilien“ bei medico international
Projekt Future Fashion
Highlights der nachhaltigen MesseFair Handeln„.

Fotos: Clara Thier
Plakat: FAIRstrickt

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