In Tübingen findet derzeit die Menschenrechtswoche statt. In zahlreichen Veranstaltungen können sich die Bürger*innen über die Menschenrechte informieren, sich zu dem Thema austauschen oder an Workshops teilnehmen. Am Mittwochabend ging es in der alten HNO um das Thema Gesundheit. Prof. Dr. Gerhard Trabert machte auf den Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit aufmerksam. Er verband seinen Vortrag mit einem Appell an die Menschenwürde und an die gesellschaftliche Verantwortung eines jeden Einzelnen.
Menschenrechte. Viele denken dabei an das Recht auf körperliche Unversehrtheit, an die Religionsfreiheit oder an das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Grundsätzlich geht es dabei um die persönliche Selbstentfaltung. Und das Thema „Menschenrechte“ erfreut sich trauriger Aktualität. Täglich hört man von Entrechtungen, unfairen Gerichtsverfahren und eingesperrten Journalist*innen. In vielen Ländern der Welt wird Homosexualität weiterhin mit dem Tode bestraft. Sind Menschenrechtsverletzungen also ein Problem in anderen Ländern, das es zu beklagen gilt? Wohl kaum. Auch hierzulande kommt es tagtäglich zum Bruch von Menschenrechten. Betroffen sind hiervon vor allem solche Menschen, die kaum Möglichkeiten haben, sich zu wehren. In der alten Hals-Nasen-Ohren-Klinik ging es am vergangenen Mittwochabend um Menschen in Armut – und warum gerade diese Menschen verstärkt von chronischen und akuten Erkrankungen betroffen sind.
Wenn Armut krank macht
Hierzu lud die Studierendengruppe IPPNW und Medinetz zu einem Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Trabert ein. Der Mediziner ist Erster Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ und lehrt an der Hochschule RheinMain. Er engagiert sich außerdem für das Medinetz Mainz – eine absolute Top-Besetzung für die Veranstaltung also.
Gleich zu Beginn stellte er eines unmissverständlich klar: Gesundheit ist ein Menschenrecht. Das Transparent hinter ihm untermauerte diese Aussage. Für ihn stand zweifelsfrei fest, dass eine adäquate Gesundheitsversorgung nicht auf Barmherzigkeit beruhe, sondern verbrieftes Menschenrecht sei. Er machte sogleich deutlich, dass es einen eklatanten Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit gibt – und zwar in beide Richtungen. Als armutsgefährdet gilt hierbei, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in einem Land bezieht. Unter strenger Armut leiden solche Menschen, die bei sogar weniger als 40 Prozent liegen. Die empirischen Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Fast alle Krankheitsbilder treten bei von Armut betroffenen Menschen häufiger auf, als bei solchen oberhalb der Armutsgrenze. Das reichste Viertel der deutschen Gesellschaft hat sogar eine Lebenserwartung, die knapp zehn Jahre über der Lebenserwartung des ärmsten Viertels liegt. Knapp ein Drittel der armen Männer erreicht das 65. Lebensjahr nicht. Das Suizidrisiko bei von Armut betroffenen Menschen liegt 20 Mal höher als bei Menschen mit durchschnittlichem oder hohem Einkommen.
Sag‘ mir, wie viel du verdienst und ich sage dir, wie lange du lebst
Ein düsteres Bild also, das sich abzeichnet. Doch woran liegt das höhere Erkrankungsrisiko bei armen Menschen? Trabert machte schnell klar, dass es eine ganze Fülle an Ursachen gäbe. Letztendlich liefe es aber immer auf das Einkommen hinaus. Es mache einen himmelweiten Unterschied, ob man ein Haus in einem gepflegten Vorstadtgebiet besäße, oder ob man nahe einer Einflugschneise von Flugzeugen lebe. Die Mieten in solchen Gebieten seien meist deutlich günstiger als anderswo. Das Gesundheitsrisiko solcher Gegenden würde meist unterschätzt. Weniger Geld bedeutet also weniger Gesundheit.
Trabert brach diesen Zusammenhang auf einfache Erklärungsmuster herunter. Erwachsene litten demnach vor allem unter dem Selektionseffekt. Die hohen Kosten im Gesundheitswesen verhinderten eine angemessene Versorgung. Armut sei dann häufig die Folge. Bei vielen Kindern greife hingegen meist der Kausationseffekt. Hier sei die Krankheit direkt von der bereits vorhandenen Armut verursacht. Solche Kinder erkrankten laut Trabert wesentlich häufiger an psychischen Krankheiten wie Depressionen.
Der Mediziner machte auf einen weiteren interessanten Zusammenhang aufmerksam. Mithilfe einer Grafik belegte er, dass die Lebenserwartung von Menschen steige, je gerechter die Ressourcen verteilt werden. Trabert ist vor allem das deutsche Sozialsystem ein Dorn im Auge. Die strikte Durchrechnung der Hartz-IV-Sätze sähen für ein fünfjähriges Kind weniger als 1 Euro pro Mahlzeit vor. Eine bewusst gesunde Ernährung sei hier selbstverständlich unmöglich.
„Das wissen die Menschen doch überhaupt nicht“
Trabert reichte es allerdings nicht, auf die bloßen Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Ihm lag es ebenso am Herzen, die Rolle der Gesellschaft zu thematisieren. Seine Haltung war ganz klar: „Von Armut betroffen zu sein, in diesem reichen Land, ist auch ein Trauma.“ Er hob dabei vor allem die sequenzielle Traumatisierung hervor. Traumata entstünden auch dadurch, mit seinen Problemen allein gelassen zu werden. Die Gesellschaft spiele also eine entscheidende Rolle dabei, wenn arme Menschen krank würden. Viel wichtiger wäre es, so Trabert weiter, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen zuzuhören und sie zu verstehen.
Mit Sorge beobachtete er einen um sich greifenden Sozialrassismus. Viele Menschen in unserem Land seien der Auffassung, besondere Privilegien stünden vor allem solchen Menschen zu, die hohe Steuern zahlten. Dass viele überhaupt nicht über diese Mittel verfügen, würde dabei häufig übersehen.
Für Trabert war vollkommen klar, was praktisch passieren müsste. Ärzt*innen müssten auf die Menschen zugehen, und nicht anders herum. Angebote stünden massenhaft zur Verfügung, doch der Mediziner bemängelte: „Das wissen die Menschen doch überhaupt nicht.“
Dem will Trabert Abhilfe schaffen. Mit dem Arztmobil könnte er eben jene Patient*innen erreichen, die nicht mehr in reguläre Praxen gehen. Häufig wären das Wohnungslose, Migrant*innen und Menschen ohne gültige Papiere, aber auch Haftentlassene und immer mehr Privatversicherte suchten das Hilfsangebot auf. Viele privat Krankenversicherte könnten sich die hohen Beiträge schlicht nicht mehr leisten. Ein Wechsel in die gesetzliche Kasse ist ab einem gewissen Alter schier unmöglich.
„Diese Augen erpressen uns nicht“
Eine Parallelmedizin will Trabert unbedingt verhindern. „Wir wollen nicht die Tafeln des Gesundheitssystems werden“, betonte er. Gerade im Gesundheitswesen gebe es weniger ein Einnahmen-, sondern viel eher ein Verteilungsproblem. Viele gesetzlich Versicherte müssten zu viele Hürden überwinden, während Privatversicherte unnötige Eingriffe über sich ergehen lassen müssten – alles im Dienste des Profits.
Zum Schluss mahnte Trabert zu mehr ethischer Verantwortung im Gesundheitswesen. Diese Thematik müsste im Medizinstudium viel präsenter sein. Er fände es „mit den Menschenrechten überhaupt nicht kompatibel“, wenn Asylbewerber*innen in Deutschland nur bei akuten Erkrankungen und bei starken Schmerzen behandelt würden. Präventive Maßnahmen hielte er für wesentlich gebotener. Ein Zitat des AfD-Politikers Alexander Gauland quittierte er mit den Worten: „Diese Augen erpressen uns nicht. Sie konfrontieren uns mit unserer Verantwortung.“
Der Vortrag wurde im Rahmen der Menschenrechtswoche gehalten. Bis Samstagabend können noch vielfältige, interessante Veranstaltungen besucht werden.
Hier geht’s zum Artikel über die Planung für die Menschenrechtswoche und hier zum Interview mit Luisa Neubauer und Caroline Kunz von Fridays for Future, die wir im Rahmen der MRW interviewt haben.
Bilder: Johanna Ebert