Poetikdozentur mit Hans Magnus Enzensberger. Tübingen ist amüsiert.

Viel Ironie, wenig Gehalt. Enzensberger enttäuscht mit Banalitäten.Die Erwartungen waren groß, groß auch der Name: Enzensberger. Ist es Qualität, die da spricht oder doch nur Altersruhm? Und was taugt der Andere, Dirk von Petersdorff? Die Woche hat gezeigt, wer die Lorbeeren eigentlich verdient hätte.

Es ist mal wieder so weit. Im gewohnt dunklen November präsentierte sich letzte Woche die 27. Poetikdozentur. Das Audimax war bis auf den letzten Platz voll – selbst die Fenstersimse wurden besetzt. Alle warteten sie nur auf einen, auf Hans Magnus Enzensberger. Eine intellektuelle Speerspitze der alten Bundesrepublik. Politischer Zeitgeist und Lyriker. Der zornige Poet. Vielleicht wird es sein letzter öffentlicher Auftritt sein. Der bereits 84-jährige Enzensberger folgt dem Ruf zur Poetikdozentur an und lockt allein mit seiner Präsenz die Massen.

Leider nichts Neues

Die Spannung lag in der Luft und das Publikum hing an seinen Lippen. Das Vortragsthema am Montag Abend: Geschichte oder Geschichten schreiben? Enzensberger gab sich jovial, schalkhaft. Er sei kein Gelehrter, kein Professor, deswegen halte er nur eine Vorlesung. So war es: Er las vor. Die Unterscheidung zwischen Historiographie und Literatur bestehe gerade darin, dass erstere unpersönlich, menschenleer sei. Literatur und vor allem der Romancier könne allein mittels seiner Phantasie und seinem Einfühlungsvermögen die Menschen aus vergangenen Zeiten wieder zum Leben erwecken. Strikte Bindung an oder nur Mimesis zur Wirklichkeit mache den Unterschied zwischen Geschichte und Geschichten aus. Leider nichts Neues, nichts Originelles. Aristoteles war bereits als Poetikdozent früher in Tübingen. Der nächste Abend bestätigte nur das, was am Montag schon offensichtlich war: Enzensberger greift wahllos in seinen Zettelkasten und was dabei heraus kommt, ist der Vortrag. Vom Lob des Lesens bis hin zu seiner Kritik, vom Lob der Mündlichkeit bis zu einer verqueren Ansicht über das moderne Analphabetentum. Darunter versteht Enzensberger jede Fachsprache, jeden Soziolekt und auch die schlechten Lesefähigkeiten gebildeter Manager und Marketingexperten. Er verliert den Faden, sucht in seinen Zetteln herum und findet den nächsten. Am Ende ein weiteres Lob: Das Lob des Buches. Es gebe einfach ein paar Gegenstände, die sich bewährt hätten: Der Löffel, das Rad, das Bett und – das Buch, so Enzensberger. Die Ironie, die am Montag noch amüsant war, beginnt lächerlich – beinahe senil – zu wirken.  Mit Plattitüden und Banalitäten langweilt er sein Publikum. Der Vortrag war zu Ende, bevor er wirklich Fahrt aufgenommen hatte. Wenigsten war er kurz.

Ein netter Abend mit großer Erheiterung

Höhepunkt der Komödie war – gut aristotelisch – die Mitte der Woche. An die Seite des Zahlenteufels gesellte sich der vergleichsweise unbekannte Dirk von Petersdorff. Beide Lyriker vereint im Kupferbau auf einer Bühne. Wie würden sie wohl zusammenpassen? Im Wechselspiel zeigten sie (endlich auch Enzensberger), was sie sind: Lyriker –  und was sie können: dichten. Wie kann man originell sein? Das war die Frage des Abends. Beide demonstrierten: durch Variation. In unzähligen Parodien, weiter- und umgeschrieben Gedichten zogen sie alle stilistischen Register. Von Anspielungen und Wortspielen bis hin zur Übersetzung war alles dabei und es wirkte. Im Saal herrschte große Erheiterung. Ein netter Abend. Den großen Einblick in die Lyrikerwerkstatt – wie angekündigt – gab es nicht. Eher ein Schauen und Wundern über deren technische Fähigkeiten. Auch ein Wundern über die Rezeption des Publikums. Oberbürgermeister Boris Palmer in seinen Grußworten: „Unsere kleine Provinzstadt wird nur groß durch Ihr Kommen.“ Doch: Enzensberger hatte nichts von stiller Einfalt und edler Größe. Er kicherte wie ein Schuljunge über den ausgelobten Literatur-Wettbewerbstitel: Ausflug zu Dritt. Sein affektiert lautes Auflachen machte die Sache nur noch schlimmer. Der lang und breit angekündigte zornige Poet, quasi ein deutscher Stéphan Hessel, war zahm und zahnlos. Das große Schweigen über sein Schreiben schreibt nur zu gern die Mär eines genialischen Dichters fort, der den Sprung in die theoretische Reflexion nicht schafft.

Wer die Lorbeeren eigentlich verdient hätte

Und der Andere? Dirk von Petersdorff wusste ganz genau, dass er nur die Nummer zwei sein würde. Er wirkte blass neben dem quirligen Enzensberger. Trotzdem war es mutig zu kommen. Wer wirklich etwas Interessantes bei der Poetikdozentur hören wollte, der war gerade dazu gezwungen auch ihm eine Chance zu geben. Donnerstag- und Freitagabend war das Gegenprogramm zu Enzensberger: Ein gut gegliederter Vortrag mit Esprit. Im Rückblick auf die Kunsttheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts verdeutlichte Von Petersdorff – von Hause aus Literaturwissenschaftler – wie prägend und deterministisch Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung für den Kunstdiskurs bis in die Moderne war. Selbst Adorno sei noch von dieser Konzeption geprägt gewesen. Wann diese Einheit der Kunst mit metaphysischem Gepräge verloren gegangen sei, schilderte Von Petersdorff eindrücklich, indem er eigene Lebensereignisse mit der großen Weltgeschichte auf sympathische Weise verband: So gab es in den 80er Jahren noch den Uni-Dozenten vom alten Schlag, der sich konfrontiert sah mit Punks, Neokonservativen und eben Von Petersdorff. Die Kunst wich einer neuen Unübersichtlichkeit, machte einer Welt aus vielen Kunstauffassungen Platz. Im Anschluss des Vortrags gab es eine kleine Diskussion. Mehr hätte man auch von Enzensberger nicht erwartet. Sein Kollege hingegen gab sich publikumsnah und erfüllte diese Erwartung.

Viel Schatten, nur wenig Licht

Die Poetikdozentur blieb hinter den Erwartungen zurück. Der Glanz, den Enzensberger ihr verleihen sollte, warf einen langen Schatten. In diesem Schatten stach Dirk von Petersdorff heraus. Das Publikum hatte die Wahl zwischen Tragödie und Komödie. Zwischen Von Petersdorff und Enzensberger. Einen Zweck hat dieses Duo zumindest erreicht: Es war eine Poetikdozentur für die –  frei nach Enzensberger – gilt: Selbst wenn sie zu nichts Nutze wäre, war sie wenigstens unterhaltsam.

Empfohlene Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert