Im Landestheater Tübingen läuft derzeit eine Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings ‚Miss Sara Sampson‘ unter der Regie von Dominik Günther. Die Erwartungen sind hoch: Fesselt das etwa 250 Jahre alte Drama auch heute noch?
Lessings Stück ist ein Meilenstein der Theatergeschichte. Die Geschichte der tragischen Liebe zwischen dem ehemaligen Frauenhelden Mellefont und Sara, einer tugendhaften, unschuldigen jungen Frau, ist das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel der Theatergeschichte. Zum ersten Mal stehen die Sorgen des einfachen Bürgers im Vordergrund.
Der Plot ist schnell erklärt: Mellefont und Sara brennen durch, weil Saras Vater ihre Liebe nicht gutheißen will. Mellefont zweifelt allerdings an den Heiratsplänen und zögert die Abreise von einem Wirtshaus hinaus, unter dem Vorwand auf ein Erbe warten zu müssen. Saras Vater ist auf der Suche nach dem geflohenen Paar und steigt im selben Wirtshaus ab. Um den Konflikt perfekt zu machen, trifft Mellefont dort auch noch auf seine ehemalige Geliebte (Lady Marwood), die ihre gemeinsame Tochter dabei hat. Durch die intrigante Marwood kommt es dann zur Tragödie.
Eine dynamische Inszenierung
Schon das Bühnenbild zeigt, worauf die Inszenierung Wert legt: Dynamik. Alles ist ständig in Bewegung. Der Zuschauer sieht immer alle drei Räume gleichzeitig. Die einzelnen Zimmer sind lediglich durch von der Decke herabhängende Bilder getrennt. Diese Anordnung sorgt für ein außerordentlich bewegtes Gesamtbild: In jedem Raum gehen die Figuren ihren Tätigkeiten nach; es wird gegessen, auf dem Bett gehüpft, an- und ausgekleidet – dabei konzentriert sich die Haupthandlung immer auf ein einzelnes Zimmer. Das kann mitunter ziemlich anstrengend für den Betrachter sein – genau darin liegt das Problem.
Durch die Diskrepanz zwischen dem im modernen Retro-Stil gehaltenen optischen Gesamtbild und der hochgestochenen, idealen Sprache des 18. Jahrhunderts entsteht eine Art brecht’scher Verfremdungseffekt. Der Zuschauer kann sich nicht richtig in die Figuren hineinversetzen – es drängt eher das „Wie“ der Aufführung als das „Was“ in den Vordergrund. Durch die krasse Dynamik wird dieser Verfremdungseffekt noch verstärkt. Genau das ist aber bei einem Lessing-Drama eine problematische Angelegenheit.
Der lessing’sche Ansatz
Lessing glaubte daran, dass das Drama den Zuschauer zu einem besseren Menschen machen kann. Der Zuschauer soll Furcht und vor allem Mitleid verspüren und dadurch von seinen negativen Affekten gereinigt werden – das war Lessings Interpretation der aristotelischen Katharsis. Herauskommen solle ein mitleidiger Mensch, denn dieser sei ein besserer.
Genau das funktioniert aber nicht, wenn sich der Zuschauer aufgrund der Verfremdung nicht mehr völlig in die Figuren hineinversetzen kann: Der Effekt ist dahin. Dabei ist es fraglich, ob das nun im Vordergrund stehende und distanzierende „Wie“ in ‚Miss Sara Sampson‘ einen Reflexionsraum eröffnen kann, wie es zum Beispiel bei Brechts Dramen der Fall ist.
Es gibt einen Moment, wo der lessing’sche Ansatz dennoch aufblitzt: In der Todesszene von Sara. Aber da ist es auch schon fast zu spät. Am Ende bleibt deshalb (leider nur) gute Unterhaltung, mit, das muss noch gesagt werden, hervorragenden Schauspielern.
Nächste Vorstellung: Samstag, 16. Mai, um 20 Uhr
Fotos: Martin Sigmund