Wer erinnert sich noch an den Tübinger Zoo? Mit Sicherheit niemand, der nicht vor 100 Jahren das Licht der Welt erblickte und mit dem Begriff „Zoo“ lediglich einen stillgelegten Musikclub in der Tübinger Weststadt verbindet. Die Rubrik der zauberhaften Orte führt uns dieses Mal jedoch nicht zu einem verlassenen Tanzschuppen, sondern zu einer geschichtsträchtigen Ruine auf dem Spitzberg, die seit Ende des Ersten Weltkrieges mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist und so fernab der festgetretenen Wanderwege ein ganz besonderes Ausflugsziel darstellt.
Die Tiefen des Spitzbergwaldes
Zwischen Tübingen und Wurmlingen erstreckt sich ein dichtbewaldeter Bergrücken, der Spitzberg. Bereits im Frühmittelalter wurde an diesem Ort eine Burg errichtet, welche später den Namen „Ödenburg“ erhielt. Dafür sorgte vor allem Albrecht von Hohenberg, als dieser im Jahre 1291 seinen Männern befahl, die Burg zu zerstören. Trotz eines direkten Wiederaufbaus durch den Böblinger Götz, fand die Burg in den darauffolgenden Jahren nie wieder zu ihrem alten Glanz zurück und verkam schließlich zu einem öden Gemäuer. Ende des 16. Jahrhunderts hieß es dann sogar, dass von der Burg kein Stein mehr übrig sei. Die Legende jedoch blieb und lud zahlreiche Tübinger weiterhin zu Spaziergängen auf den Spitzberg ein. So unter anderem auch Friedrich Hölderlin, der sich mithin zu folgendem Gedicht inspirieren ließ:
„Still und öde steht der Väter Feste, Schwarz und moosbewachsen Pfort‘ und Turm, Durch der Felsenwände trübe Reste Saust um Mitternacht der Wintersturm.“
Leopard, Tiger & Co.
Nachdem mehrere Jahrhunderte ins Land gezogen waren, kaufte schließlich der gebürtige Tübinger Eugen Mannheim 1906 rund sieben Hektar Wald- und Wiesenfläche des Spitzberges auf, um an jenem Ort einen Tierpark mit angegliederter Gastronomie zu errichten. So entstanden binnen eines Jahres neben einem Wirtschaftsgebäude und zwei Scheunen auch Käfige mit mehreren Abteilungen für Raubkatzen und Bären sowie ein Gehege für Vögel und etliche Teiche für die Fischotter und Seehunde. Das Wirtschaftsgebäude selbst erhielt aufgrund des historischen Grundstücks den Namen „Ödenburg“.
Erschwinglich: 20 Pfennig Eintritt
Am 19. Mai 1907 war es dann soweit: der „Tiergarten Tübingen“ öffnete seine Pforten und wurde dank des großen Tierbestandes von unter anderem Primaten, Raubtieren und Reptilien sowie dem erschwinglichen Eintrittspreis von 20 Pfennig (für Kinder und Soldaten sogar nur die Hälfte) zu einem Publikumsmagnet in der Region. Selbst der König von Württemberg soll wenige Wochen nach der Eröffnung mit seinen beiden Enkeln zu Besuch gewesen sein und als Zeichen seines Dankes 20 Mark gespendet haben. Leider erfolgte der Niedergang des Tiergartens mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und der Einberufung Mannheims zum Militärdienst. 1919 folgte schließlich das Aus für den Tübinger Zoo und der Zahn der Zeit begann über die Jahre hinweg an den Bauwerken zu nagen.
Gebrüll oder Rauschen im Wald?
Somit ist vom einst so prachtvollen Zoo nach bald 100 Jahren nichts weiter übrig als die leere Ruine des Tigerkäfigs. Jedoch berichten bis heute noch etliche Wanderer, welche über den Bergrücken des Spitzberges liefen, dass man aus den Tiefen des Waldes nach wie vor das Gebrüll der Raubkatzen vernehmen kann. Allein um diesen Mythos zu überprüfen, lohnt sich ein Besuch der historischen Ruine.
Anreise: Den von Birken verborgen Tigerkäfig am Ende eines abschüssigen Waldhanges erreicht man am besten zu Fuß und mit gutem Schuhwerk. Aus Tübingen kommend fährt man dafür zunächst mit dem Bus der Linie 9 bis zur Haltestelle „Bismarckturm“. Von dort aus schlägt man dann den Wanderweg in Richtung Hirschau/Wurmlingen ein und hält sich nach gut 200 Metern an die linke Abzweigung. Um den genauen Standort der Käfigruine ausfindig zu machen, orientiert man sich anschließend an den folgenden Koordinaten:
N 48°30.454, E 009° 01.517 (GPS-fähiges Smartphone empfohlen).
Fotos: Paul Mehnert