Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist wohl der momentan umstrittenste grüne Politiker in Deutschland. Aus der eigenen Partei kommt die Ansage, er solle doch einmal „die Fresse halten“, während er von sich selbst sagt er, er setze sich für die demokratischen Rechte aller ein – auch wenn es mal weh tue. Im zweiten Teil unseres Interviews erklärt er, warum er in den Sozialen Medien provozieren möchte und welche Rolle sein neues Buch dabei spielt.
Sie beziehen immer wieder Stellung zu bundesweiten Themen. Zudem gibt es Gerüchte, dass Sie als Nachfolger von Winfried Kretschmann gehandelt werden. Könnten Sie sich denn eine zweite Karriere in der Bundespolitik vorstellen?
Ich bin ein politischer Mensch und ich sehe keinen Grund, den Horizont auf die eigene Stadt zu beschränken. Häufig ist es der Fall, dass die eigentlichen Probleme vor allem vor Ort sichtbar werden, man selbst allerdings an diesen nichts ändern kann. Mit acht Jahren Amtszeit und als Chef der Verwaltung, Vorsitzender des Gemeinderats und oberster Repräsentant des Gemeinwesens nehme ich mir das Recht, diese Probleme laut und deutlich zu benennen, damit diese auch in Stuttgart, Berlin oder Brüssel gehört werden. Allerdings bin ich 45 und sollten die Tübinger irgendwann sagen: „Jetzt ist Schluss, wir brauchen jemand Anderen“, stehe ich noch mitten im Berufsleben und kann mir durchaus vorstellen, dass ich noch etwas anderes machen werde.
Sie stoßen aufgrund Ihrer Aussagen zu Asylsuchenden und Geflüchteten immer wieder auf Kritik auch aus den eigenen Reihen. Nehmen Sie etwas von dieser Kritik für sich mit oder beharren Sie auf Ihrer Meinung?
Das hängt von der Art der Kritik ab. Da gibt es zwei Grundtypen. Der eine übt konstruktive Kritik und setzt sich mit den Argumenten auseinander. Das kann dazu führen, dass es zu einem Agree oder Disagree kommt, doch der Respekt für die verschiedenen Meinungen ist dabei vorhanden. Konstruktive Kritik akzeptiere ich selbstverständlich. Schlimm ist es, wenn es so nicht abläuft, sondern die Auseinandersetzung in üblen Beschimpfungen endet. Die einen schreien dann „Gutmensch“ und die Anderen beschimpfen dich als Rassist. Ich setze mich für eine pluralistische, respektvolle Diskussionskultur ein.
Sie haben diesbezüglich einen sehr polarisierenden Internetauftritt und bekommen für Ihre Posts zum Beispiel in den Sozialen Medien viel Kritik. Was möchten Sie mit diesem Konfrontationskurs erreichen?
Zum einen ist es für eine Demokratie gut, wenn nicht überall „Konsens-Soße“ darüber gegossen wird, sondern wenn man klar zu seiner Meinung steht. Nur wenn der Eine sagt, was er möchte, kann ich dasselbe tun und daraus kann sich dann ein konstruktiver Austausch entwickeln. Natürlich ist es aber auch so, dass man vor allem auf Facebook mit „Friede, Freude, Eierkuchen“-Postings keine Leute erreicht. Ich kann ja als Politiker schlecht Katzenvideos einstellen. Wenn man Aufmerksamkeit haben will, muss man sich exponieren.
In einem Spiegel-Interview von vor knapp einem Jahr haben Sie gesagt, dass Sie für Grenzzäune und bewaffnete Grenzen sind – also für eine „Festung Europa“. Im selben Interview sprachen Sie auch von Vätern, die um ihre blonden Töchter fürchten oder von einem Gefühl des Unwohlseins bei der Begegnung einer Gruppe Männern aus den Maghreb-Staaten auf offener Straße. Wieso verwenden Sie diese Form von Rhetorik?
Das ist keine Rhetorik, das ist Realität. Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie im Botanischen Garten durch diese Gruppe von 30 Schwarz-Afrikanern laufen, welche immer an der gleichen Stelle ist? Fühlen Sie sich da wohl?
Wenn nichts passiert und alles friedlich ist, warum sollte man sich da unwohl fühlen?
Laufen Sie durch?
Ja.
Wenn das für Sie in Ordnung ist – wunderbar. Ich treffe aber immer mehr Menschen, die fragen, warum man da nichts machen kann.
Aber wenn diese Menschen dort einfach nur sitzen, warum besteht denn dann die Notwendigkeit sie von dort zu vertreiben?
Diese Männer sind in der Regel stark alkoholisiert, dealen mit Drogen, belästigen die Leute. Ich fühle mich davon stark eingeschränkt. Wenn ich da von Ängsten spreche, die viele Leute betreffen, wird man schnell in die rechte Ecke geschoben, obwohl diese Ängste real und begründet sind. Leider haben sich auch mehr dieser Ängste bewahrheitet, als ich angenommen habe.
Es ist doch aber auffällig, dass gerade bei sexuellen Übergriffen erst dann medienwirksam eine Debatte losgetreten wird, wenn die Täter einem bestimmten Phänotyp entsprechen. Dabei gibt es diese Form von sexueller Gewalt gegen Frauen schon lange – unabhängig von Hautfarbe und Nationalität der Täter.
Stimmt, das gab es schon immer, aber das heißt ja nicht, dass wir weiter wegschauen sollten. Für mich macht es einen Unterschied, ob ich von vier verschiedenen betroffenen Personen weiß, die ich auch überprüft habe, dass alle Täter Schwarze waren oder ob es sich um eine gemischte Tätergruppe handelte. Es bringt ja auch nichts, den betroffenen Frauen dann zu sagen, dass sie eben auf eine andere Party gehen sollen. Das ist nun einmal so passiert und dann sollte man das auch so ansprechen dürfen.
Anfang August bringen Sie ein neues Buch mit dem Titel „Wir können nicht allen helfen“ heraus. Dieser Satz erinnert doch sehr an bekannte Slogans der rechten Szene, wie etwa: „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt.“ Zudem meinten Sie einmal: „Ich kann auch nicht mit dem Satz ‘Wir können nicht allen helfen‘ leben. Wenn wir nicht helfen, macht es keiner.“ Wieso schreiben Sie ein Buch zur Flüchtlingsdebatte und dann mit diesem Titel?
Ende letzten Jahres kamen mehrere Verlage auf mich zu. Ich habe dann mit denen diskutiert, was ich leisten kann und was nicht. Am Ende dachte ich mir, dass dieses Buch als Debattenbeitrag durchaus sinnvoll ist. Der Titel ist sachlich ja richtig. Wir können nicht allen helfen. Trotzdem provoziert er manche Menschen sehr. Genau das ist mein Thema. Erst die Fakten zur Kenntnis nehmen und dann urteilen.
Aber als reiche westliche Nation haben wir vor allem dem globalen Süden gegenüber eine Verantwortung zu tragen, da wir Teil des Problems sind.
In dem Sinne müssen wir allen helfen – durch fairen Handel und Teilen. Aber wir können nicht allen helfen, indem wir sie nach Deutschland holen. Das ist unangenehm und hart, aber trotzdem wahr. Das Buch ist ein Erfahrungsbericht von mir. Ich habe keine Zeit zu recherchieren, Studien zu lesen oder aktuelle Publikationen auszuwerten. Ich schreibe darüber, wie sich die Situation für mich dargestellt hat und wie ich sie erlebt habe.
Und Sie schöpfen da aus Ihren Erfahrungen als Oberbürgermeister von Tübingen?
Überwiegend, ja. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Vielen gerade unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen mangelt es an Ausbildungsmöglichkeiten.
Heißt das, man müsste gerade diesen Jugendlichen gute Grundvoraussetzungen bieten, damit sie sich ein Leben in Deutschland ermöglichen können?
Nicht alle haben ein Recht auf Asyl, aber auch das sehe ich pragmatisch. Diese Menschen sind hier, da müssen wir schon aus reinem Eigeninteresse alles tun, dass sie unsere Sprache lernen und einen Beruf ergreifen können.
Titelfoto: Paul Mehnert