Walter Jens (1923 – 2013): Vergessen und vergessen werden

Eine Erinnerung an das Leben von Walter Jens

Am 10. Juni verstarb einer der letzten Universalgelehrten Deutschlands im Alter von 90 Jahren: Walter Jens. Der große Rhetor, Altphilologe und Publizist geriet in den letzten Jahren seines Lebens immer mehr in Vergessenheit; seine zunehmende Demenz machte öffentliche Auftritte nahezu unmöglich. Was hätte Walter Jens wohl von seinem Leben zu berichten gehabt, wenn er sich am Ende noch hätte erinnern können?
von Kera Cook

Vielleicht hätte er erzählt, wie er aufgrund seines Asthmas ein Fußballfeld nur als Zuschauer betreten konnte. Wie ihm sein Asthma andererseits aber auch die Freiheit gab, um die ihn viele Männer seines Jahrgangs beneideten. Er musste zeitlebens nie eine Waffe ergreifen. Die Waffen mit denen Walter Jens sein Leben bestritt, blieben sein Verstand und sein Wort. Als nächstes hätte er wohlmöglich davon gesprochen, wie er sein Rigorosum im Luftschutzbunker ablegte und seinen wissenschaftlichen Siegeszug durch Deutschland antrat, der ihn schließlich über Hamburg und Freiburg nach Tübingen führte. Dort stieß er die Neugründung für das rhetorische Seminar an und legte somit den Grundstein für die heutige Tübinger Rhetorik, wie es sie deutschlandweit nur dieses eine Mal an der Eberhard Karls Universität gibt.

Ein wissenschaftlicher Siegeszug

Möglicherweise hätte er erwähnt, wie er zusammen mit seiner Frau Inge an der Sitzblockade vor dem Atomwaffendepot in Mutlangen teilnahm und zu einer Art Galionsfigur der Friedensbewegung in den 80er Jahren wurde. Oder, wie er wegen Beihilfe zur Fahnenflucht vor Gericht gestellt wurde, weil er flüchtige US-Soldaten aus dem Golfkrieg bei sich zu Hause versteckt hielt.
Er hätte erzählen können, wie er und Hans Küng zu Verfechtern der aktiven Sterbehilfe wurden. Dass er ein Leben ohne Geist und Verstand nicht für lebenswert genug hielt, um weiter daran festzuhalten. Was hätte er wohl zu seinem eigenen Zustand am Ende seines Lebens gesagt?

Galionsfigur einer Friedensbewegung

Hätte er sich zu seiner mutmaßlichen Nähe zur NSDAP geäußert, wegen der er immer wieder in den Fokus der Presse geriet?
Oder hätte er lieber über seinen späten Erfolg im Alter von 80 Jahren gesprochen. Mit seiner Frau Inge verfasste er das Buch „Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim“, das  zu einem Bestseller avancierte, der sich wochenlang auf Platz zwei der meistverkauften Bücher hielt.
Walter Jens konnte seine Erfolge und sein Lebenswerk nicht mehr würdigen. Aber andere konnten das: So wie beim Symposium der Tübinger Rhetorik anlässlich seines 90. Geburtstags. Dort erinnerten unter anderem Rektor Bernd Engler, Oberbürgermeister Boris Palmer und Professor Dr. Joachim Knape an den Walter Jens, den sie kennenlernen durften: den Literaturhistoriker, den Übersetzer, den Kritiker, aber vor allem den Redner und den Urvater der Allgemeinen Rhetorik in Tübingen.

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