Es ist ein beinahe patriotischer Anblick. Brezeln, gebacken in Form der Buchstaben EU für Europäische Union, liegen aufgereiht nebeneinander. So verlockend, dass es nur Augenblicke zu dauern scheint, bis die EU auseinanderbricht… halt, das sollte damit nicht ausgedrückt werden… Man kann nur zuschauen wie die EU zerbröselt… nein, neuer Versuch… Ein großer Brocken der EU fehlt bereits… okay, ein anderer Ansatz… Mit jedem Bissen nehmen die Besucher ein Stück der EU in sich auf, man kann es kaum erwarten, sich die EU einzuverleiben… nein, den Eindruck will man als Deutscher ja auch nicht erwecken…
Dass man bereits mit einer einfachen Brezelmetapher in solche Schwierigkeiten gerät, zeigt deutlich welchen Wirbel Großbritannien mit dem Referendum zum Austritt aus der EU ausgelöst hat. Oder um es mit den unsterblichen Worten eines antiken Facebook-Posts zu sagen: „Unterschätze niemals die Macht von dummen Menschen in großer Zahl.“
Tatsächlich könnte man vom Einstieg dieses Artikels darauf schließen, dass im folgenden ein bissiger, wenn auch humorvoller Artikel zum Thema Brexit folgt. Damit hätte man zwar recht, aber zur Verteidigung des noch Vereinigten Königreichs, sollen hier auch einige Fakten dargelegt werden. Es wäre beispielsweise einfach, den Artikel auf Kosten der britischen Bevölkerung zu verfassen. Dass das häufigste Suchergebnis auf Google in England nach der Wahl „What is the EU?“ war, oder dass Menschen mit deutlich niedrigerem Bildungsniveau eher für den Austritt gestimmt haben – doch das wäre, als würde man Schwarzer Peter mit einem Blinden spielen.
Die metaphorischen Hörner sollen deshalb hier drei Männern aufgesetzt werden, die dafür wahrscheinlich bereits Rabatt bekommen. Prämierminister David Cameron, Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party und ehemaliger Londoner Bürgermeister Boris Johnson – einem von ihnen wird nebenbei Oralverkehr mit einem toten Schwein nachgesagt. Es ist dem Leser überlassen herauszufinden wem.
Aber wie bei einem kontinentalen Frühstück sollte man zunächst mit den Brezeln anfangen:
Diese wurden anlässlich der Podiumsdiskussion: „Das Volk hat gesprochen“ am Mittwoch in Tübingen gebacken. Der Untertitel „Eine erste Bilanz nach dem Referendum im Vereinigten Königreich“ verzichtete dabei auf wertende Adverbien wie katastrophal, unvorhersehbar oder zum Haare ausreißen. Zu den Rednern gehörten Dr. Gabriele Abels vom Lehrstuhl Politikwissenschaft, Stefan Büttner, der als Berater im Schottischen Parlament tätig ist, und Dr. Kai Oppermann, der als Deutscher an der Universität Sussex doziert. Einheitlich wie Big Ben schlugen sie alle den gleichen Ton an: „Das wird noch Probleme geben.“
Nicht, dass es nicht zu erwarten gewesen wäre, man hatte nur nicht damit gerechnet. Schon seit Jahren spielte die EU für die englische Regierung den Sündenbock: Zu viel Regulierung, zu viel Bürokratie, zu viele Franzosen – denn diese hatten mit Zähnen und Klauen dagegen gekämpft, dass England überhaupt in die EU eintritt. Das liegt nun 43 Jahre zurück und die Lager auf beiden Seiten des Teichs haben sich kaum verändert. Wen wundert es da, dass Englands Bevölkerung die von Nationalstolz geschwängerten Worte von Farage und Johnson herunterschlangen wie Chicken Masala… ich meine natürlich Fish and Chips. Schließlich scheinen sich die Engländer vor nichts mehr zu fürchten als Einwanderer. Tatsächlich, so wurde bei der Podiumsdiskussion erklärt, war die Reisefreiheit innerhalb der EU und damit die Migration nach England eine der großen Problematiken, die man mit dem Referendum beseitigen wollte.
Weder Geld noch Haare
Ebenso, predigte Farage, müsse man den Geldstrom von 350 Millionen Pfund stoppen, der von England wöchentlich in die EU fließe. Stattdessen solle man lieber dieses Geld in den National Health Service (NHS) investieren. Schöne Versprechungen, die sich im Nachhinein so schnell verflüchtigten wie sein Haaransatz. Nicht nur ist der Betrag wesentlich geringer, vor allem aber hat sich Farage davon distanziert, dass auch nur ein Pence in den NHS investiert werden wird.
Und vergessen wir nicht Cameron. Hätte dieser nicht, um die Parlamentswahl zu gewinnen, ein Referendum versprochen, wären wir momentan nicht in dieser Situation. Leider war seine Kampagne etwas zu erfolgreich und der politische Streich ging nach hinten los. Sein Rücktritt zeigte deutlich, dass nicht einmal er selbst mit dem Sieg des Referendums gerechnet hätte und kaum waren die Stimmen ausgezählt, sah sich England schon mit den Folgen seines Handelns konfrontiert.
Von der anderen Seite des Teiches mag es eine gewisse Schadenfreude hervorrufen: Das Englische Pfund ist auf einem 30-Jahre Tief, Irland und Schottland, die mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatten, sprechen von ihrer eigenen Unabhängigkeit und Londoner singen Hasstiraden auf ihren ehemaligen Bürgermeister. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass England einer unserer größten Handelspartner ist. Der studentische Leser mag jetzt die Achseln zucken, aber auch Studienförderungen wie ERASMUS könnten zukünftig nicht mehr für England zählen.
Nichts ist sicher
Wer sich jetzt wie viele der Engländer denkt – „how can we undo this?“ – es gibt einen wagen Hoffnungsschimmer, denn das Referendum, auch wenn Ausdruck des Volkes, ist juristisch nicht bindend. Erst wenn das House of Commons zustimmt, so Büttner, könnte ein Antrag zum Verlassen der EU eingereicht werden. Das bringt die Regierung in eine missliche Lage, denn den meisten Abgeordneten sind die Folgen eines Austritts bewusst und die EU hat inoffizielle Vorverhandlungen vor der Einreichung des Antrags abgelehnt. Einfach formuliert: England darf vorher nicht den Zeh ins Wasser stecken, sondern muss gleich eine Arschbombe wagen.
Zuletzt sollen, sozusagen als fachkundiges Urteil, hier noch die abschließenden Worte der drei Referenten aufgeführt werden, die recht anschaulich demonstrieren, was Experten über die momentane Lage denken.
Oppermann: „Geben Sie Großbritannien nicht auf!“
Büttner: „Zukünftig werden Deutschland und Frankreich die Zügel in der EU in die Hand nehmen müssen.“
Abels: „Tief in meinem Herzen hoffe ich in England auf eine Jugendrevolte.“
Fotos: Robin Graber