Wie die VICE Chefredakteurin Laura Himmelreich mal eben die Objektivität aus dem Journalismus hebelte und ganz nebenbei die Politik zurück in den Fokus des Magazinjournalismus brachte.
Populismus. Rechtsextremismus. Postfaktizismus. Wörter, die wir im Mantra wiederholen, weil sie die Schlagzeilen zahlreicher Tageszeitungen füllen. Man will sich schon fast ducken, wenn Artikel über Donald Trump, Marine Le Pen oder Frauke Petry die Frontseiten fluten. So auch Laura Himmelreich, die ganz offen erklärt: „Ich war noch nie politisch so emotionalisiert.“ Als wären die letzten Wochen und Monate ein plötzlicher Rückschlag für die gesellschaftlichen Werte, die auch sie mit dem Vice Magazin vertritt. Obwohl… was? Politisch?
Weil sonst keiner drüber schreibt
Das Bild der Vice ist ein wenig verdreckt, möge man meinen. Aber die Themen seien gesellschaftlich eben relevant, meint Himmelreich – auch wenn der erste Blick auf die Website anderes vermittelt. Es sind aber Bereiche, die die Zielgruppe der 18 bis 35 Jährigen ansprechen, vor allem weil es Fragen sind, an die sich die „klassischen“ Medien nicht herantrauen. Ganz vorne dabei Sexualität, Drogenkonsum, Beziehungsmodelle und Gender. Es ist einfach, durch die teils, wie auch Himmelreich selbst zugibt, kargen Übersetzungen der amerikanischen Artikel zu behaupten, die VICE hätte keinen journalistischen Qualitätsanspruch. Das Magazin sei jedoch mehr als die reine Informationsaufbereitung tagesaktueller Geschehnisse – „Wir schreiben darüber, was uns interessiert.“
Die gute Prise der Subjektivität
Hier grätscht der Moderator berechtigterweise ein – Wo bleibe denn die goldene Regel der Objektivität im Journalismus? Erfahrungsberichte über Drogenkonsum oder sexuelle Praktiken mit nahen Verwandten sprechen doch für dezente Subjektivität. Aber das sei laut Himmelreich genau der Punkt. Die Medienlandschaft sei ein Konkurrenzfeld um Aufmerksamkeit und die Schaffung einer eigenen Marktidentität von immenser Relevanz. Journalismus müsse mehr liefern als die bloße Nachricht, zumal diese in Zeiten universaler Copy-Paste-Portale an Wert verliere. Es sei wichtig – in Bezug auf populistisch autoritäre Tendenzen in der Politik – Geschehnisse einzuordnen und klar Stellung zu beziehen.
Ein Hoch auf die Selbstironie
Lukas, ehemaliger Praktikant der VICE und Student der Medienwissenschaft, sagt später erleichtert, dass dieser Kommentar mit einer Sektflasche hätte gefeiert werden sollen. Zurecht, denn die VICE, ursprünglich ein Punk- und Skate-Magazin aus Toronto, entspringt einer Subkultur und versuche laut Himmelreich gar nicht, sich selbst so ernst zu nehmen. Es gehe darum, darüber zu schreiben, was die jungen Leute beschäftigt, die in der Redaktion arbeiten und für eine liberale Weltanschauung, die es zu verteidigen gilt, einstehen. Wir seien nicht in der Mehrheit, meint Himmelreich, und sie sei wenig interessiert an Seniorenpolitik, die ihre Zukunft bestimmt.
Die Gleichung zwischen Laura Himmelreich und der VICE geht auf. Es wirkt authentisch und unfassbar ehrlich, wenn sie erklärt, weshalb genau diese Inhalte mit genau diesen Schlagzeilen auf der Website sind. VICE ist ein Magazin, das den liberalen Umgang mit gesellschaftlich tabuisierten Themen gemeistert hat. Obgleich man sich für Oralverkehr mit dem Cousin interessiert oder nicht.
Über Laura Himmelreichs Person: Sie studierte Politik und war später an der Henri-Nannen Journalistenschule in Hamburg. Eines ihrer studienbegleitenden Praktika absolvierte sie beim Stern Magazin, für das sie auch anschließend arbeitete und die Reportage „Reise ohne Widerkehr“ verfasste. Seit 7 Monaten ist sie Chefredakteurin von VICE Deutschland und leitet 140 MitarbeiterInnen. Und sie liebt ihren metallic-grünen Opel Astra mit der Sitzheizung eines Vulkans.
Fotos: Paul Mehnert.