Nora* wurde auf ihrem Nachhauseweg von einem Exhibitionisten verfolgt. Auch in der Tübinger Bibliothek der Wirtschaftswissenschaft gab es zwei Vorfälle von Exhibitionismus. Täter entblößen dabei die eigenen Genitalien vor meist gegengeschlechtlichen Personen. 2015 gab es im Stadtgebiet Tübingen 17 erfasste Fälle.

Gegen halb zwei in einer Sonntagnacht Mitte Januar verlässt Nora das Tübinger Nonnenhaus, in dem sie eine Freundin besucht hat. Sie biegt ab nach links und läuft den Stadtgraben entlang. Das Handy in der Hand macht sie sich auf den Nachhauseweg.

Es ist kalt und es schneit. Auf der Höhe der Langen Gasse, die vom Stadtgraben Richtung Stiftskirche führt, stehen einige in einer Gruppe beisammen und unterhalten sich, es ist noch ein bisschen was los auf der Straße. Ein paar Sekunden später hört sie Schritte hinter sich.

Ein Mann, dem Geräusch der Schritte nach zu urteilen gerade noch gejoggt, bleibt abrupt stehen und dreht sich weg.

Die Polizei wird später sagen, sie hätte auch bereits zu diesem Zeitpunkt einen Notruf absetzen können… immer dann, wenn etwas verdächtig oder bedrohlich vorkommt.

„Ich habe nie Angst wenn ich nachts unterwegs bin“, meint sie von sich selbst, „da bin ich nicht der Typ zu.“ Wie oft ist sie schon nachts alleine nach Hause, nachdem sie abends noch mit Freunden unterwegs war, oder wenn sie von der Bar, in der sie arbeitet, kommt.

Vielleicht wollte der Mann einfach nur zur Bushaltestelle, auf deren Höhe sie sich gerade befindet. Fest entschlossen oder auch einfach nicht genauer darüber nachdenkend, geht sie weiter, dreht sich nicht mehr um, überquert die Straße und läuft am Parkhaus König vorbei.

Der §183 im Strafgesetzbuch behandelt exhibitionistische Handlungen. Dabei entblößt der Täter die eigenen Genitalien vor Fremden meist des anderen Geschlechts. Zu einer Berührung der anderen Person kommt es dabei nicht.

Über die Schnarrenbergstraße führt sie ihr Weg, die Treppen hoch zur Calwer Straße. „Gruselig eigentlich da“, meint sie jetzt, „total dunkel. Aber wir laufen da ja alle drüber, wenn wir heimgehen.“ Weiter durch die Frondsberg- und Hallstattstraße. Zwei Männer kommen aus dem Haus gegenüber, steigen in ein Auto am Straßenrand, Lichter an, der Motor brummt.  Sie fahren los. Ein paar Momente später – sie weiß nicht genau warum – dreht sie sich um.

Da ist der Mann vom Stadtgraben, vielleicht fünf Meter hinter ihr, onanierend.

Bei exhibitionistischen Handlungen ist die einhergehende Belästigung des Opfers von Bedeutung, so das Polizeipräsidium Reutlingen. Ekelgefühle, Schock oder Schrecken, Verletzung des Schamgefühls.

Nora fängt an zu rennen. Der Mann hinter ihr her.

Der schlimmste Moment in ihrem Leben wird sie ihn später nennen.

Die Entblößung dient der sexuellen Befriedigung des Täters. Dadurch grenzen sich exhibitionistische Handlungen zum Beispiel von Nacktsportlern, FKK oder Flitzern bei Fußballübertragungen ab.

Panik. Panik!

Was wenn, was wenn, was wenn. Nur das in ihrem Kopf. Sie versucht ihr Handy zu entsperren. Aus irgendeinem Grund funktioniert das nicht. Da fängt sie an zu brüllen.

Wenn sie früher mit Freunden über solche Horrorstories geredet hat, dachte sie immer: Bestimmt könnte ich in einer solchen Situation vor Schock nicht brüllen.

In dieser Sonntagnacht hat sie gebrüllt, und wie. Der Mann dreht sich um und läuft davon. Ihr wird eine Tür geöffnet und die Polizei verständigt.

Groß, hellhäutig gibt sie an als die Polizei da ist. Die Fußspuren, die die Polizei dachte verfolgen zu können, waren bereits wieder zugeschneit.

„Keine Ahnung ob er sich `bloß` an mir aufgeilen wollte oder ob er auch handgreiflich geworden wäre. Das finde ich das Schlimmste daran“, meint sie.

Im Jahr 2015 gab es im Stadtgebiet Tübingen 17 erfasste Fälle von Exhibitionismus, sieben davon wurden aufgeklärt. Die Zahlen für das Jahr 2016 liegen noch nicht vor. Dabei schwanken die Fallzahlen von Jahr zu Jahr, so das Polizeipräsidium Reutlingen. Ein einheitlicher Trend lasse sich zurzeit nicht erkennen.

In Noras Fall rät das Polizeipräsidium Reutlingen als Vorsichtsmaßnahme gerade bei Nacht den Weg mit Bedacht zu wählen: Gemeinsam mit Freunden nach Hause laufen, öffentliche Verkehrsmittel oder ein Taxi nutzen und lieber einen belebten Umweg auf sich nehmen. Aufmerksamkeit ist hier das A&O: Wenn man bemerkt, dass man verfolgt wird, solle man nicht zögern, andere Passanten anzusprechen. Die Polizei kann man immer anrufen, wenn etwas verdächtig oder bedrohlich vorkommt.

Der §183 im Strafgesetzbuch behandelt exhibitionistische Handlungen. Dabei entblößt der Täter die eigenen Genitalien vor Fremden meist des anderen Geschlechts. Zu einer Berührung der anderen Person kommt es dabei nicht.

Ganz anders gestalteten sich die Fälle von Exhibitionismus im Tübinger Institut der Wirtschaftswissenschaft. Tagsüber und innerhalb der Bibliothek. Zunächst im vergangenen November und erneut im Dezember. Der Täter hat sich in beiden Fällen vor Studierenden teilweise entblößt und sexuelle Handlungen an sich selbst vorgenommen.

„Beim ersten Vorfall verließen die betroffenen Studentinnen leider verstört die Bibliothek ohne dass ihre Personalien aufgenommen werden konnten“, sagt Martin Biewen, der Gleichstellungsbeauftragte der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Deshalb wurde auch erst beim zweiten Vorfall Anzeige erstattet.

„Die Gründe, keine Anzeige zu erstatten, können vielfältig sein und von Scham bis zu dem Umstand reichen, dass sich das Opfer nicht belästigt fühlt“, meint das Polizeipräsidium Reutlingen. Genau beziffert werden können die tatsächlichen Vorkommnisse somit nicht – man geht aber davon aus, dass die meisten Fälle angezeigt werden.

Martin Biewen vermutet, dass es sich bei beiden Vorfällen in der Bibliothek um ein und denselben Täter handelte. Männlich, zwischen 35 und 40 Jahre alt, dunkle Hautfarbe. Zum ersten Vorfall konnten nachträglich Angaben durch die Bibliotheksaufsicht gemacht werden.

„Die Betroffenen sollten sich unverzüglich bei der Aufsicht melden. In keinem Fall sollte einfach die Bibliothek verlassen werden, ohne dass der Vorfall gemeldet wurde“, meint der Gleichstellungsbeauftragte.

Ein wichtiger Schritt bei solchen Vorfällen ist die Information und Sensibilisierung der Bediensteten und Studierenden, so das Polizeipräsidium Reutlingen.

Das wurde gemacht: Die Vorfälle wurden in der Gleichstellungskommission der Universität diskutiert. „Wir werden darauf hinwirken, dass insbesondere Bibliotheken für das Thema Belästigung, welches etwa auch Belästigung durch Stalking umfasst, sensibilisiert werden und die Aufsichten instruiert werden, was in solchen Fällen zu tun ist“, sagt Martin Biewen.

Da nur selten vorhergesagt werden kann, wo ein Exhibitionist auftritt, sind präventiv-polizeiliche Maßnahmen kaum möglich.

„Wichtig ist, dass die Taten sofort angezeigt werden, das erhöht die Wahrscheinlichkeit, den Täter im Zuge einer Sofortfahndung dingfest zu machen“, so das Polizeipräsidium Reutlingen.

Dabei schwankt die Aufklärungsquote deutlich: Im Jahr 2012 bzw. 2013 konnten 25 Prozent bzw. 29,4 Prozent der Fälle  im Stadtbereich Tübingen aufgeklärt werden, 2014 belief sich die Aufklärungsquote auf 60 Prozent und im Jahr 2015 auf 41,2 Prozent. Eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine entsprechend hohe Geldstrafe zieht eine exhibitionistische Handlung nach sich.

Für Nora hätte das große Bedeutung: „Wenn der Täter gefasst werden würde, fände ich das sehr beruhigend.“ Denn die innere Unruhe bleibt. Nachts alleine nachhause? Nie wieder.

Wie man sich in Situationen sexueller oder auch anderer gewalttätiger Übergriffe richtig verhalten soll, ist schwierig zu sagen, da sich jede Situation anders gestaltet. Das Polizeipräsidium Reutlingen kann jedoch folgende Ratschläge geben:

  • Verlassen Sie die Situation so schnell es geht. Lassen Sie sich nicht provozieren und vermeiden Sie Diskussionen. Beleidigen Sie den Täter nicht. Gehen Sie, wenn möglich, rasch weg oder begeben sich in eine sichere Umgebung, z.B. in die unmittelbare Nähe anderer Menschen.
  • Machen Sie andere auf die Situation aufmerksam. Rufen Sie andere Passanten gezielt zu sich oder laut um Hilfe. Einer direkten Ansprache wird sich niemand entziehen: „Sie im blauen Mantel, helfen Sie mir!“. Für Menschen, welche nicht laut genug rufen können, kann die Verwendung einer gebräuchlichen Trillerpfeife sinnvoll sein.
  • Siezen Sie den Täter! So demonstrieren Sie Distanz und zeigen Außenstehenden, dass es sich nicht um eine private Angelegenheit zwischen dem Unbekannten und Ihnen handelt.
  • Verzichten Sie auf den Einsatz von Abwehrwaffen wie Pfeffersprays oder ähnliches. Deren Einsatz kann leicht zur Gefahr für Sie selbst werden und ungewollt auch Sie handlungsunfähig machen. Zudem könnte sich dadurch die Gewaltbereitschaft bzw. Aggressivität des Gegenübers steigern.
  • Verständigen Sie möglichst sofort über Notruf 110 die Polizei. Erstatten Sie in jedem Fall Anzeige. Nur so können weitere Übergriffe durch den Täter verhindert werden.
  • Beobachten Sie genau und prägen Sie sich die Beschreibung des Täters ein. So  helfen Sie mit, ihn schneller fassen zu können. Jedes Detail kann hilfreich sein! Wenn es gefahrlos möglich ist, machen Sie mit Hilfe eines Smartphones Foto- oder Filmaufnahmen von dem Täter.
  • Als Vorsichtsmaßnahme empfehlen wir Frauen, ihren Weg gerade bei Nacht mit Bedacht zu wählen. Sprechen Sie sich mit Ihren Freundinnen/Freunden ab, wie der Nachhauseweg nach einem gemeinsamen Abend möglichst lange gemeinsam zurückgelegt werden kann. Nutzen Sie spätnachts besser öffentliche Verkehrsmittel oder ein Taxi. Nehmen Sie zu Fuß lieber einen hellen und belebten Umweg, statt einer Abkürzung durch einen dunklen menschenleeren Park in Kauf.   Seien Sie aufmerksam und zögern Sie nicht, andere Passanten anzusprechen und um Hilfe zu bitten, wenn Sie feststellen, dass Ihnen jemand folgt. Übrigens: Die Polizei können Sie immer anrufen, wenn Ihnen etwas verdächtig oder bedrohlich vorkommt.

Wer Zeuge einer Straftat wird, wird folgendes geraten:

  • Helfen Sie, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Niemand erwartet, dass Sie Ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Manchmal hilft schon ein lautes Wort, um den Täter zu stoppen.
  • Fordern Sie andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf. Sprechen Sie Freunde oder auch umstehende Passanten an.
  • Beobachten Sie genau und prägen Sie sich die Täterbeschreibung ein. Melden Sie der Polizei alles, was Sie gesehen haben, auch wenn es Ihnen noch so unwichtig vorkommt. Fertigen Sie, wenn es geht, Bilder an.
  • Rufen Sie über Notruf die Polizei.
  • Kümmern Sie sich um das Opfer. Wenn jemand verletzt ist, rufen sie den Rettungsdienst.
  • Stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung. Die Polizei ist auf Ihre Mithilfe angewiesen: Ohne genaue Beschreibung des Geschehens und des Täters ist seine Überführung nur schwer möglich

*Name von der Redaktion geändert
Titelbild: Paul Mehnert

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