In jedem zweiten Haus in der Altstadt scheint schon mal ein berühmter Schriftsteller gewohnt zu haben. Doch wie genau war ihr Leben in Tübingen? Eine Übersicht in fünf Teilen. Teil 5: Hesse, Zweig und die Selbstverwirklichung in Tübingen.
Für Hermann Hesse und Arnold Zweig war der Umzug nach Tübingen mehr Zwang als Wollen. Beide waren zutiefst enttäuscht von der sich ihnen bietenden Welt und mussten sich an einem neuen Ort ordnen, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen.
Das Gedicht „Stufen“, hier vorgelesen von Hesse selbst, ist sein wohl bekanntestes Gedicht. „In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ – das galt auch für ihn selbst.
Flucht nach Tübingen, Beginn als Schriftsteller
Hesse befindet sich in einer Art Schwebezustand zwischen Allem oder Nichts: Aufgrund eines Selbstmordversuchs in seiner Jugendkrise vorübergehend in eine Nervenheilanstalt verwiesen, ist er auf der Suche nach seiner ihm noch unbekannten Berufung. Durch den herkömmlichen Bildungsweg und seine Familie glaubt er diese nicht zu erreichen, weshalb er die ungeliebte Ausbildung zum Buchhändler mit seiner persönlichen Bildung verbindet, der er umso eifriger nachgeht.
Das Höchste für ihn ist die „Flucht vom Äußeren der Bücher(arbeit) ins Innere“, die er am Abend, nach der Arbeit in der Buchhandlung Heckenhauer am Holzmarkt, vollführt. Selbsterziehung und Selbstfindung stehen auf dem Plan – und obwohl ihm sein Vater weiterhin den genauen Tagesablauf vorschreibt, kann sich Hesse seiner Familie wieder annähern und macht damit einen ersten Schritt aus der Krise. Auch wenn er die Arbeit als „Staubschlucken und Geldzählen“ abtut, die „einen zum elenden Karl macht“, erfreut sich der Freigeist am Leben in Tübingen.
Hier hat Hesse seine geistige und persönliche Identität gefunden. Er genießt das „Landleben“ in der Herrenbergstraße vor den Toren der Stadt und macht viele Ausflüge in die nähere Umgebung. Die Sonntage „werden verträumt, d.h. vergeigt, verschlafen verbummelt oder verlesen“. Er sagt von sich selbst, dass er in Tübingen in drei Gebieten fleißig gewesen sei: „Im Geschäft, in privater Lektüre und in abendlich nächtlichem Verkehr mit einigen Kameraden, meist ausgesprungenen oder sonst verbindungslosen Studenten, mit großen Saufereien.“
Auszug aus Arnold Zweigs „Junge Frau von 1914“ aus dem Romanzyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, begonnen mit „Der Streit um den Sergeanten Grischa“.
Befreiung von den Folgen des Krieges
Auch für Zweig ist Tübingen nicht das Wunschziel: Auf der Suche nach „irgendeiner Einsamkeit“, in der er wieder etwas „schaffen“ kann, verschlägt es ihn ausgerechnet nach Tübingen. Das politische Berlin behagt ihm nicht mehr und er wünscht sich, die verlorene Zeit im Krieg nachholen zu können. Mit dem „durchdröhnten“ Literaturbetrieb in Berlin steht er außerdem auf dem Kriegsfuß.
Also Tübingen. Durch die Immatrikulation löst Zweig das Problem der Wohnungssuche und zieht mit seiner Frau Bice nach Lustnau. Natürlich hat er kein echtes Studium geplant, denn er ist ja schon ein bekannter Schriftsteller. Dennoch belegt Zweig einige Vorlesungen aus Interesse. Tübingen ist leider nicht so unpolitisch, wie er sich gewünscht hat: Er beschreibt es als „gegenrevolutionär und antisemitisch“. Sein Ziel der Ruhe findet er dennoch: Zweig scheut den Kontakt zu den Einwohnern und gibt sich als Einsiedler.
Zum Schreiben kommt er trotzdem nicht wirklich. Der Krieg hallt noch nach und darunter leidet sein literarisches Ausdrucksvermögen. Nicht jedoch sein essayistisches und so setzt sich Zweig mit dem Krieg und dem Judentum auseinander, überarbeitet frühere Werke und schafft die ideologische Grundlage für sein weiteres Schaffen. Erst als er mithilfe psychoanalytischer Behandlung seine Depression überwinden kann, beginnt Zweig wieder literarisch zu schreiben – vor allem nach dem Umzug ins geliebte München.
Zweig lernt, in der Ruhe und Verlassenheit von Tübingen, seine wahre Universität, den Krieg, zu verarbeiten. Mit diesem gewonnenen Abstand können einige seiner größten Werke entstehen. Hesse hingegen legt in Tübingen den Grundstein zur Festigung seines Charakters und zu seinem Künstlerdasein. Der erste Schritt zum meistgelesenen europäischen Autor des 20. Jahrhunderts und Nobelpreisträger ist getan. Für beide wirkt Tübingen als Katalysator zum Finden und Festigen der literarischen und auch eigenen Persönlichkeit, indem jegliche psychische Belastung beseitigt wird.
- Teil: Goethe und Schiller bei Cotta
- Teil: Mörike der Träumer und die Hausfrau Wildermuth
- Teil: Die Verrückten Hölderlin und van Hoddis
- Teil: Das Genie und der Politiker – Hauff und Uhland
- Teil: In Tübingen, um sich zu finden: Hesse und Zweig
Hermann Hesse (1877-1962) schrieb passend zu seinen Erlebnissen in Tübingen thematisch hauptsächlich über Selbstverwirklichung und Selbstwerdung. Er ist seit 1946 Literatur-Nobelpreisträger. Sein Leben war geprägt von psychischen Krisen. Als überzeugter Kriegsgegner siedelte er 1919 ins Tessin um, wo er seine größten Werke schrieb. Als Gegner des NS war er in Deutschland unerwünscht geworden. Gegen Ende seines Lebens schrieb er kaum noch, sondern war mit unzähligen Korrespondenzen ob seiner Berühmtheit beschäftigt. In Tübingen lebte er in der Herrenbergerstraße 28 und arbeitete am Holzmarkt 5. Drei Werke: Das Nobelpreis-Werk „Das Glasperlenspiel“, der Roman „Der Steppenwolf“ und das philosophische Gedicht „Stufen“.
Arnold Zweig (1887-1969) wurde aufgrund seiner Erfahrungen im ersten Weltkrieg zum Pazifisten. Im Nationalsozialismus wurden Zweigs Bücher verbrannt und er floh ins Exil nach Haifa. Er orientierte er sich in Richtung des humanistischen Sozialismus, weswegen er bei seiner Rückkehr nach (Ost-)Deutschland von der Regierung geehrt wurde. Allerdings fand er aufgrund seiner Nähe zur DDR in der BRD kaum Anerkennung. Zweig lebte in Tübingen in Lustnau in der Dorfstraße 3. Drei Werke: Sein bekanntestes Werk „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, die mit dem Kleist-Preis gekürte Tragödie „Ritualmord in Ungarn“ und der Roman „Das Beil von Wandsbek“, in dem die Anpassung der kleinen Leute in der NS-Zeit thematisiert wird.
Lizenz Titelbild, rechtes Bild: Bundesarchiv, Bild 183-28224-0009 / CC-BY-SA 3.0, Foto: Heinz Funck. (Arnold Zweig, links, und Otto Nagel).