Erster Gast der Tübinger Demokratiegespräche war Jean Asselborn, ein Politiker, der in Brüssel nicht gerade für seine Schweigsamkeit bekannt ist. Gemeinsam mit Professoren der Politikwissenschaften behandelte er am Donnerstag im Festsaal der Neuen Aula Fragestellungen weltpolitischer Bedeutung: Migration aus Afrika, Konflikte im Nahen Osten und schließlich demokratische Defizite in der EU.
Trotz des feuchtwarmen Wetters und einer sich in ganz Tübingen breitmachenden Feiertagsstimmung, ist der Festsaal der Alten Aula mit Studierenden, Ortsansässigen und Tübinger Wissenschaftlern gefüllt. Anlässlich der Tübinger Demokratiegespräche ist Jean Asselborn, der luxemburgische Außenminister, eingeladen worden. Unter dem Leitsatz „Was tun? Zur Erosion der Demokratie innerhalb und außerhalb der EU“ findet eine Podiumsdisskusion statt.
Als dienstältester Außenminister der europäischen Union ist Asselborn weltweit auf Reisen. In einem Film zu Beginn der Veranstaltung wird dargestellt, wie Asselborn sich zwischen den Kulturen bewegt: USA, Iran, Russland, Ägypten, Saudi-Arabien, Israel – immer als Figur zwischen den Fronten der globalen Politik. Mal als Redner, der die Interessen seines Landes bei Anne Will vertritt, dann als Vermittler zwischen Shiiten und Sunniten. Oder als Zuhörer, der die Probleme Geflüchteter anhört. So zumindest wird der hochrangige EU-Politiker in der Dokumentation dargestellt.
„Ein Präsident, ein Parlament, eine Regierung“
Im Rahmen der Podiumsdiskussion zeigte er sich offen für kritische Fragen und bekundete, dass die EU derzeit nicht reif genug sei, geeint gegen Probleme, wie Populismus oder wachsende Migrationsbewegungen vorzugehen. „Die heutige Struktur muss sich wechseln“ räumt Asselborn ein. Ein Ziel für Europa könne folgender Leitspruch sein: „Ein Präsident, ein Parlament, eine Regierung“. Die Staaten selbst seien jedoch nicht geneigt Befugnisse abzugeben und eine europäische Regierung voranzutreiben. Wenn überhaupt sei so etwas aus seiner Sicht erst in 20 bis 30 Jahren vorstellbar.
Die Vermittlung von Problemen im Europäischen Rat scheitere an persönlichen Hemmungen. Ein Punkt der gerade im Publikum für Irritationen sorgte: „Wie kann es sein, dass Schwierigkeiten wie Despotisierung in Ungarn nicht angesprochen werden?“, fragte ein junger Mann. Asselborn betonte wieviel „Überwindungskraft“ es benötige, um im Rat „über ein Land zu reden und Probleme anzusprechen“, wenn die verantwortlichen Partner selber auch anwesend seien. Eine Aussage, die verdeutlicht, dass zwischenmenschliche Interaktionsregeln und -hemmnisse auch im politischen Alltagsleben eine Rolle spielen. Asselborn bezeichnet diese Hemmungen, Fehlentwicklungen offen im Rat anzusprechen als „falsche Solidarität“, die es zu überbrücken gelte.
Die Türkei im Fokus
Andreas Schedler, Gastdozent in Tübingen und international renommierter Politikwissenschaftler, meint die EU ließe sich gerade im Kontext mit Akteuren, wie der Türkei zu oft täuschen. „Solange die Show aufrecht erhalten wird“, so Schedler zur Wahldiktatur in der Türkei, ließe die EU die Aushöhlung demokratischer Grundsätze zu. Er schlägt einen „Internationalen Gerichtshof für Wahlen“ vor. Auf die in der Türkei installierte Alleinherrschaft geht Asselborn erschreckend ehrlich ein. Die Entwicklung der vergangenen Monate sei ein „ziviler Tod“, die aktuelle türkische Politik bezeichnet er gar als „Methoden, die während der Nazi-Herrschaft genutzt wurden“. Erdogan habe er 2007 persönlich kennen lernen können und äußert seine Besorgnisse darüber „wie die Macht einen Menschen politisch und auch psychisch verändern könne“. Nichts desto trotz habe die Türkei drei Millionen Geflüchtete aufgenommen. Dies sei zu respektieren.
In Nordafrika Auffanglager für Geflüchtete einzurichten verneint Asselborn kategorisch: „Das was in Libyen geschieht, in diesen Camps, das ist der Horror. Das sind Konzentrationslager!“, erklärt der Minister. Es könne nicht sein, dass gerettete Menschen wieder nach Nordafrika geschickt würden.
Auf das Thema Migration angesprochen betont er: „Entwicklungshilfe für Afrika darf nicht herunter geschraubt oder als Druckmittel missbraucht werden“. Sich des universitären Klimas und der Abwesenheit großer Medienhäuser bewusst, berichtet Asselborn ungewöhnlich ehrlich von globalen Problemen und Missständen. Im Jemen herrsche eine humanitäre Katastrophe. Die gesamte Bevölkerung sei vom Hungerstod bedroht. „Die Situation im Jemen ist schlimmer als in Syrien, aber keiner berichtet davon“, bekundet Asselborn seinen Unmut. Ein blindes Bombardement seitens der saudischen Golfmonarchie bedrohe das Leben Tausender. „Und die Waffen sind aus Großbritannien oder Amerika“, fügt er hinzu. Er resümiert: „Waffen liefern, um den Krieg im Jemen oder in Syrien zu stoppen ist keine Alternative“. Offen bekundet er, dass er es als Luxemburger leicht habe, Rüstungsexporte zu kritisieren. Sein Land sei kein bedeutender Akteur im globalen Waffenhandel. Anders verhalte sich dies mit Ländern, wie Deutschland, in denen Arbeitsplätze an die Rüstungsindustrie gebunden seien.
Europa habe eine „ethische Verantwortung“. Die Probleme dieser Welt seien auch „unsere Krisen“ und „Teil unseres Problems“, lautet Asselborns Fazit.
Fotos: Marko Knab