Zum fünften Jahrestag der Verhaftung ihres Mannes Raif Badawi kam Ensaf Haidar am 16. und 17. Juni nach Tübingen, um vor der Stiftskirche zusammen mit heimischen Aktivisten die 131. und damit weltweit längste Mahnwache für den Blogger zu halten. Neben dem Protest und einer Pressekonferenz gab die Autorin im Museum eine Lesung ihres Buches.
1000 Hiebe für die Meinungsfreiheit
2008 rief Raif Badawi die Website „Netzwerk Saudischer Liberaler“ ins Leben, um Männern und Frauen eine Plattform zu bieten, auf der sie gleichberechtigt und frei über gesellschaftliche Themen diskutieren konnten. Dort sprach er sich für Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung der Frau und kritisch gegenüber der Religionspolizei und religiösen Gelehrten aus. Für sein Engagement für Meinungsfreiheit wurde er am 17. Juni 2012 zu 1000 Stockhieben, 10 Jahren Freiheitsstrafe und zur Zahlung von 1 Million Riyal (ca. 240.000 €) verurteilt. Aufgrund ärztlicher Bedenken wurde die Strafe nach 50 Schlägen aufgeschoben und bislang nicht fortgesetzt.
Tübingen für Familie Badawi
Tübinger Vereine, wie das Weltethos-Institut, die Tübinger Initiative für Raif Badawi, die studentische Menschenrechtswoche, die Lokalgruppe von Amnesty International, Terre des Femmes und die Buchhandlung Osiander sorgten für Ensaf Haidars Ankunft. Aus der humanistischen Verantwortung Tübinger Denker heraus, hießen Kulturamtsleiterin Dagmar Waizenegger und Dr. Christopher Gohl vom Weltethos-Institut, die Frau willkommen, die 2015 den EU-Menschenrechtspreis (Sacharow-Preis) für ihren Mann entgegennahm. Oberbürgermeister Boris Palmer war aufgrund der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen nicht vor Ort, um den prominenten Gast zu empfangen.
Freiheitskämpferin die man kennt, und wiedererkennt
Begegnet man der nach Kanada geflohenen Mutter dreier Kinder, besticht die zierliche Frau vor allem durch ihr modebewusstes Auftreten und ihre Beharrlichkeit. Seit fünf Jahren kämpft sie unermüdlich für die Freilassung ihres Mannes, der sie etwa einmal pro Woche aus dem Gefängnis anruft. Immer wieder erklärt sie, dass sie, obwohl es Raifs Wunsch wäre, keine Aktivistin sei. Ihr liberaler Kleidungsstil soll nicht als Protest gegen die patriarchalischen Kleidervorschriften des saudischen Königshauses gewertet werden. Stattdessen vertritt sie die Meinung, dass jeder frei und unabhängig von Zwängen leben soll. Jede Frau soll für ihre Rechte kämpfen, sie selbst setzt sich jedoch allein für die Befreiung ihres Mannes ein. Sie respektiert ihr Land und dessen Sitten ohne jemanden vor den Kopf stoßen zu wollen, und bittet König Salman ihren Mann, noch zu diesem Ramadan, zu begnadigen. Das ist jedoch kompliziert, da es bislang keine Amnestie für politische Gefangene gibt. Haidar lobt auch den Einsatz deutscher Politiker, wie Martin Schulz und Sigmar Gabriel um Raifs Schicksal, bittet aber alle darum, mehr zu tun.
„Deprimiert in der Ecke stehen bringt nichts, ich habe mich dafür entschieden zu kämpfen.“
Bei der Lesung ihres Buches am Freitag „Freiheit für Raif Badawi, die Liebe meines Lebens“ erzählt sie von den ersten Telefonaten, wie sie trotz Widerstand der Familien zueinander fanden und wie Raifs politischer Aktivismus wuchs. Man bemerkt, dass hinter dem politischen Streben um Menschenrechte und Meinungsfreiheit eine tragische Liebesgeschichte steht, zwischen Raif und Ensaf, einem politischen Gefangenen und seiner Frau, die den Kontakt zu ihrer Familie abbricht, um die ganze Welt reist, und auf Politiker zugeht, um den Vater ihrer Kinder aus der Gefangenschaft einer der strengsten Diktaturen der Erde zu befreien.
Freiheit für Raif Badawi?
Für Haidar ist jede Publicity gut, daher helfen ihr auch kleine Veranstaltungen in Tübingen. Wahrscheinlich durch den internationalen Druck, ist das Gerichtsurteil derzeit in Revision. Für ihre Unterstützung dankte sie allen am Wochenende Anwesenden vielmals. Doch derzeit befindet sich auch Badawis Anwalt im Gefängnis, zu 15 Jahren Haft verurteilt. Um die Gesellschaft zu ändern, muss Raif Badawi auch Vorbild in Saudi-Arabien werden, denn obwohl er die Meinung vieler anderer im Land vertritt, hat ihn dort niemand unterstützt. Meinungsfreiheit ist der Sauerstoff einer lebendigen Demokratie und da in den meisten arabischen Staaten die Macht des saudischen Königshauses sehr stark ist, liegt es an den Bürgern westlicher Staaten ihre Freiheit zu nutzen um internationalen Druck auszuüben. Ensaf Haidar ist zuversichtlich und sobald ihr Mann frei ist, möchte sie mit der Familie in Kanada leben.
Fotos: Felix Müller