Knut Kircher hat viele Aspekte des Lebens gesehen: Der gebürtige Tübinger war lange Zeit in drei verschiedenen Lebenswelten unterwegs. Am bekanntesten ist er wohl für seine frühere Tätigkeit als Bundesligaschiedsrichter.
Mit Erreichen des Alterslimits im Jahr 2016 beendete er seine aktive Laufbahn. Den Familienvater aber auf seine Schiedsrichterkarriere zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. Sein dritter prägender Lebensbereich ist die Arbeit als Entwicklungsingenieur bei einem großen deutschen Automobilhersteller. Im zweiten Teil des Interviews mit Kupferblau spricht der sympathische Hirschauer über den Videobeweis, die Bedeutung der Familie und warum er nicht in Tübingen studiert hat.
Ja, das war ’neuzeitlich‘ der größte Fehler, dem ich aufgesessen bin. Das kam dadurch, dass ich die Szene selbst nicht so im Fokus hatte und dem Assistenten vertraut habe. Aber so etwas passiert, das Ist normal. Die Aufgaben und Kompetenzen werden geteilt im Team. Das ist sicherlich ein Thema, wo ich heute sage: Mit dem Videoassistenten wäre das nicht passiert. Das war doof, weil es eben spielentscheidend war. Wo ich selbst einmal eingegriffen habe, ohne von außen geleitet worden zu sein, das war bei einem Spiel von Wolfsburg gegen Berlin. Zwei wirklich krasse Fehlentscheidungen. Das war schon eine härtere Nummer.
Sie haben den Videobeweis gerade selbst angesprochen. Zu Ihrer aktiven Zeit gab es nur die Torlinientechnik. Was halten Sie vom Videobeweis? Hat er eine Zukunft?
Der Videobeweis ist aus meiner Sicht gut. Es ist prinzipiell gut, dass man ihn hat. Man muss sich die Frage stellen, aus welcher Motivation heraus er gefordert und eingeführt wurde. Gehen wir ein bisschen zurück, dann haben wir solche Szenen wie bei mir mit Bayern und Augsburg. Kein Strafstoß, wenn man das im Nachhinein angeschaut hat. Wir haben das Phantomtor in Hoffenheim – kein Tor, das klare Handspiel von Andreasen damals bei Hannover gegen Köln. Das sind natürlich klare Dinge, wenn man das im Fernsehen sieht, dann ist das schwarz auf weiß. Wenn ich solche Szenen habe und sie richtig beurteilen und lösen kann, dann ist der Videobeweis Gold wert. Dann schafft er wirklich Gerechtigkeit.
Ich hatte da immer viel zu wenig Kontakt, als dass ich da Freundschaften gesucht hätte. Mein Credo war dann, ich versuche in diesen 90 Minuten eine schnelle, nicht zu tiefe, aber dennoch emotionale Bindung zu den 22 Spielern hinzubekommen. So, dass man ein bisschen einen Draht hat, indem man sie auch erreicht. Jeder ist anders, jeden erreicht man anders. Den einen erreicht man mit einer klaren Ansage, den anderen erreicht man mal mit Humor. Das ist auch situativ bedingt. Wenn ein Foul geschieht, dann kann ich da natürlich nicht mit Humor kommen. Aber dazwischen kann ich mal mit einem Spruch kommen – oder er bringt einen – dann kommt ein Spruch zurück. Da schafft man so eine Atmosphäre als Schiedsrichter, in der man gut arbeiten kann. Die ging bei mir aber nie darüber hinaus in eine freundschaftliche Beziehung zu einem Spieler.
Ist die Familie dann ein wichtiger Anker, wenn man zwischenzeitlich so viel unterwegs war?
Natürlich! Obwohl das in den drei Welten, in denen ich unterwegs war, sehr zeitintensiv war. Dennoch habe ich mir immer ‚Wow‘ gesagt, wenn ich wieder in diese Welt heimgekommen bin und einen die Kinder noch erkennen, obwohl man viel unterwegs ist! (lacht) Da hat mir meine Frau sehr viel den Rücken gestärkt und auch freigehalten. Es ist natürlich wichtig, weil es eine gesunde Basis ist, auf der man die anderen Sachen aufbauen kann.
Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt. Mit den Menschen, die ich hier kennengelernt habe, war es für mich nie ein Ansinnen, hier wegzugehen. Ich bin viel herumgekommen, hatte aber meine Wurzeln immer hier. Ich finde es hier auch toll. Sehr umgängliche Menschen, freundschaftlich verbandelt und es ist ‚Heimat‘. Von daher würde ich mir schwertun, die Heimat zu verlassen. Ich hatte das große Glück, dass ich von diesem ‚Heimatstützpunkt‘ auch in der Welt unterwegs war und andere Kulturen, Menschen und Länder kennengelernt habe. Jeder Mensch, jeder Landstrich hat etwas für sich. Ich fühle mich hier wohl – ich glaube, das ist das Entscheidende.
Konnten Sie das Wissen aus einem ihrer drei Lebensbereiche auch in einem anderen nutzen? Und wie haben Sie es geschafft, alles unter einen Hut zu bringen?
Ich glaube, das macht man ganz automatisch. Man geht ja nicht aus dem einen Raum heraus und lässt das, was man kennen und schätzen gelernt hat, dort wie in einem Rucksack zurück. Das saugt man ja alles auf. Umgang mit unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen emotionalen Lagen hat man ja überall. Kommunizieren, Entscheidungen treffen und sich die Wirkungen der Entscheidungen überlegen macht man ja durchgehend in allen Welten. Je mehr man das macht, desto mehr Lebenssouveränität gewinnt man. Ich kann sowohl im Beruf von den Dingen profitieren, die ich auf dem Spielfeld gelernt habe, als auch umgekehrt. Da ist ein großer Rucksack an Lebenssouveränität entstanden, den ich immer dabeihabe. Auch heute, hier! (lacht)
Nicht, weil Tübingen nicht das richtige Studienfach hatte. Ich glaube, Tübingen ist als Studienort wirklich interessant. Allein schon von der Stadt her, vom Umland. Tübingen hat auch einen sehr guten Ruf in vielen Studiengängen. Dort wird viel bewegt. Es hat etwas, ein besonderes Flair. Für Tübingen hat es zum Studium nie gereicht, da war ich auf anderen Spuren unterwegs.
Abschließend noch eine Frage: Mit drei Söhnen zuhause – Müssen Sie da manchmal auch noch „Schiedsrichter“ sein?
Nein, das regeln wir mit Taschengeldentzug und Stubenarrest! (lacht) Nein, das müssen wir nicht. Das ist völlig normal, dass man Zuhause auch Grenzen auslotet. Auch die dürfen über die Stränge schlagen, aber das ist alles so, dass wir das gemeinsam im Griff haben.
Fotos: Marko Knab