Was ist schon der Einzelne?

 „Schöne Neue Welt“ . Hier sind alle glücklich – immer. Was nach Instagram klingt ist  eigentlich Aldous Huxleys Dystopie von 1932. Zurzeit spielt das  Landestheater Tübingen das Stück einer neuen Welt in der Familie, Treue und Religion abgeschafft sind und Henry Ford, der Erfinder der Fließbandproduktion, angebetet wird. 

Die Schöne Neue Welt ist sauber und gleichförmig. Alle Menschen, die sie bevölkern, ähneln sich in Aussehen und Einstellungen. Dies zeigt sich bei der gelungenen Inszenierung unter der Regie von Dominik Günther auch am Bühnenbild: Zwei mit unnatürlich blauem Licht ausgeleuchtete, erhöht gelegene rechteckige Ausschnitte bilden die sterile Neue Welt ab, in der sich wunderschöne, normkonforme Menschen tummeln. Diese tragen lange weiße Oberteile, auf denen perfekte nackte Körper – jedoch ohne Geschlechtsorgane – abgebildet sind. Die Zähne sind strahlend weiß, die blonde Frisur sitzt, der Teint ist perfekt.

„Kollektivität! Identität! Stabilität!“

Dies ist die Welt von Lenina Crowne (Laura Sauer). Mit Fack-ju-Göthe-Chantalstimme erklärt sie dem Publikum die „Schöne Neue Welt“: Es gibt Alpha-, Beta-, Gamma-, Delta- und Epsilon-Menschen. Diese nehmen unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben wahr und werden ab der frühesten Kindheit entsprechend konditioniert. Die wichtigsten Lektionen: Man will zu seiner Kaste gehören und zu keiner anderen. Alle Kasten sind unverzichtbar für die Gesellschaft und nur in Gemeinschaft kann man glücklich sein. Der Leitspruch der Schönen Neuen Welt, der im Stück mantraartig wiederholt wird, lautet dementsprechend: „Kollektivität! Identität! Stabilität!“

In der Schönen Neuen Welt verhalten sich alle konform – zum Wohle der Gemeinschaft.

Als Lenina mit Bernhard Marx (Daniel Holzberg), der für non-konforme Gedanken bekannt ist, einen Ausflug in die „unzivilisierte Welt“ unternimmt, treffen die beiden auf John Savage (Jürgen Herold) und seine Mutter Linda (Susanne Weckerle). Linda war einst in der Zivilisation zuhause, brachte John allerdings in der Wildnis zur Welt.

Marx und Lenina bringen die beiden „Wilden“ in die Stadt. Der aufgewühlte John in schmuddeligem grauem Tanktop und Jeans bildet im vorderen Teil der Bühne einen enormen Kontrast zu der kalten emotionslosen Neuen Welt. Er versteht den Reiz des blinden Konformismus nicht, hinterfragt als Außenseiter das Konzept der Stabilität. Dennoch wird deutlich, dass auch er kulturell vorgeprägt und innerlich zerrissen ist: Er hat Shakespeare verinnerlicht, rezitiert ihn häufig und glaubt auch an Gott, wie es die „Wilden“ zu tun pflegen. Gleichzeitig lauschte er als Kind begierig den Erzählungen und Liedern seiner Mutter aus der Schönen Neuen Welt.

John Savage (links) verweigert sich der Konformität.

„Doch alle sind wir nützlich und also auch ich.“

Das Stück bietet viele Denkanstöße: Zum einen zum Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv. Jeder Mensch füllt seinen vorgegebenen Platz in der Gesellschaft aus und verhält sich zum optimalen Nutzen dieser. Zum anderen verhandelt das Stück auch die Frage nach dem Glück und dem Recht auf Unglück, und nicht zuletzt Geschlechterverhältnisse und Sexualverhalten. Letzteres bereitet nämlich enorme Probleme: John ist unsterblich in Lenina verliebt, auf eine romantische, ja altmodische Art und Weise. Doch in der Schönen Neuen Welt sind Gefühle verpönt, Sex ist pures Mittel zum Lustabbau und jeder sollte sich möglichst oft möglichst viele verschiedene ParterInnen „nehmen“.

Im Stück wird eindrucksvoll dargestellt, wie Lenina aufgrund ihrer Prägung das Konzept Liebe nicht verstehen kann und Johns Annäherungen hilflos mit den leeren Phrasen begegnet, die sich in ihr Gehirn eingebrannt haben.

„Jeder gehört jedem“

Eine weitere sehr interessante Figur ist die Mutter Linda, die, geprägt durch die Normen- und Wertvorstellungen der Neuen Welt, in der Wildnis verrückt geworden ist. Sie kann nicht verstehen, dass in der Wildnis nicht „jeder jedem“ gehört. Auch mit der Rolle der Mutter – ein in der Neuen Welt undenkbares Familienkonzept – tut sie sich schwer. Zurück in ihrer Heimat verabschiedet sie sich mit der Droge Soma von der Welt. Susanne Weckerle stellt diese inneren Konflikte sehr eindrucksvoll dar.

Viele kennen sicherlich auch Huxleys Buch „Schöne Neue Welt“ – oder im Original „Brave New World“. Dem Ensemble gelingt es, die  Grundstimmung des Buches einzufangen und mithilfe von Erklärsequenzen, die an YouTube-Tutorials erinnern, ins Heute zu holen. Ein Besuch lohnt sich also auf jeden Fall.


Kommende Aufführungen:

  • 4., 17., 18. und 19. Mai
  • 7. und 15. Juni
  • 11. und 19. Juli

Fotos: Martin Sigmund/LTT

 

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