Gerade hat Haruki Murakami sich von der Nominierung zum alternativen Literaturnobelpreis zurückgezogen, um sich auf das Schreiben konzentrieren zu können. Der fast 70-Jährige nimmt uns noch in viele surreale Welten mit, so auch in seinem neusten Roman „Die Ermordung des Commendatore“. In fast 1000 Seiten mischen sich die Unterwelt, Bildwelten, Metaphern und Musik mit banalem Alltag.
Die Farben sind das Fenster zur Seele
„Die Ermordung des Commendatore“ besteht aus zwei Bänden: „Eine Idee erscheint“ und „Eine Metapher wandelt sich“. Eigentlich handelt es sich um einen einzigen Roman, welcher in Japan auch als ein Buch erschienen ist. Fast 1000 Seiten auf einmal würden sich aber wohl etwas schwerfällig lesen.
Auch mit der Aufteilung in zwei Bände tun sich zwischendurch Längen auf, vor allem am Anfang des zweiten Bandes. Auf das Wesentliche heruntergebrochen, ist die Handlung eigentlich auch nicht allzu ausufernd – von den komplexen Verbindungen zwischen den schicksalhaft verflochtenen Ebenen einmal abgesehen. Ein namenloser Ich-Erzähler, ein Porträtmaler von 36 Jahren, wird unvermittelt von seiner Frau verlassen und zieht in das verlassene Haus des Malers Tomohiko Amada am Berg. In einem künstlerischen Emeritentum versucht er, seine Malerei von bloßer Auftrags- und Broterwerbskunst zu einer wahren Kunst mit individuellem Stil zu machen. Mit solch einer Malerei kann der Erzähler die Ängste und das tiefste Innere der Menschen festhalten, mit all ihren Geheimnissen und teilweise auch bedrohlichen Neigungen.
Ein farbloser Mann, eine Grube im Wald und ein Gemälde
Bei einem Porträt jedoch hat er Schwierigkeiten, mit den richtigen Farben den Kern des Menschen zu erfassen: Der Erzähler soll den geheimnisvollen, nahezu perfekten Herrn Menshiki porträtieren, dessen Name so viel bedeutet wie „Farben vermeiden“. Schließlich dringt er zu seinem Geheimnis vor, das etwas mit Marie, einem 13-jährigen Mädchen aus der Nachbarschaft, zu tun hat. Die Begegnung mit Menshiki ist ein Schlüsselerlebnis, das „den Kreis öffnet“, wie der Erzähler es ausdrückt. Eine Reihe rätselhafter Ereignisse wird in Gang gesetzt, Welten aus Gemälden und die Wirklichkeit beginnen zu verschwimmen, und der Maler verstrickt sich als Vermittler in das Leben anderer und deren tiefster Geheimnisse. Der noch wichtigere Auslöser für die Handlungskette ist der Fund von Tomohiko Amadas titelgebendem Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“, welches dieser auf dem Dachboden des Hauses sorgfältig vor der Öffentlichkeit verborgen hat.
Menshikis Geheimnis ist gelüftet, die Luke zum Dachboden ist geöffnet, die „Ermordung des Commendatore“ ist freigelegt: Mit den Figuren aus Mozarts Oper Don Giovanni hat Tomohiko Amada offenbar das schmerzvollste Ereignis seines Lebens metaphorisch abgebildet. Auf dem Gemälde wird der Commendatore blutig vom Geliebten seiner Tochter erstochen. Das Rätsel um die wahre Bedeutung des Bildes gilt es zu lösen, wie auch ein Rätsel um eine geöffnete Grube im Wald. Damit der Erzähler mit den eigenen Verlusterfahrungen und der Ereigniskette abschließen kann, muss er alle Ebenen und Mysterien verbinden. Als Vermittler zwischen den verschiedenen Welten erscheinen dem Erzähler Figuren aus dem Gemälde und helfen ihm: Der Commendatore, der sich als „eine Idee“ ausgibt, und eine Metapher, die eine Luke zur Unterwelt öffnet.
Zwischen Realismus und Magie
Dass sich am Schluss die Welten aus dem titelgebenden Gemälde und den eigenen Bildern des Malers mit der Vergangenheit und den Ängsten des Malers, Menshikis, Maries und Tomohiko Amadas verbinden, zeugt von einer überzeugenden, durchdachten Komposition. Die Beziehungen zwischen den Ereignissen werden hinreichend aufgelöst, es bleibt jedoch viel Spielraum zur Interpretation. Verbindende Motive wie Enge und Verlust, vor allem der zentrale frühe Tod der Schwester des Malers, durchziehen den Roman von Anfang an und halten die Ebenen zusammen.
Die Faszination an Murakami macht gerade das Nebeneinander von lapidarem Realismus und surrealer Mystik aus. Der ruhige Stil spiegelt Vertrauen darauf wider, dass die in Band 1 noch sehr unzusammenhängenden Ereignisse von etwas wie Schicksal gesteuert werden. Trotzdem sind die Beschreibungen von Banalitäten oder Absurditäten wie Kleidung, Mahlzeiten und den Sorgen der 13-jährigen Marie über ihren zu kleinen Busen stellenweise etwas repetitiv und befremdlich.
Auch einige Motive – die Unterwelt mit Fährmann, Jungfrauengeburt, Psychoanalyse – werden relativ klischeehaft eingesetzt. Durch die einmalige, alles umfassende Metapher des Gemäldes „Die Ermordung des Commendatore“ kann man aber tatsächlich sagen: „Eine Metapher, und auch diese Motive, wandeln sich.“ Alles in allem ist der Roman also durchaus lesenswert und auch auf fast 1000 Seiten noch spannend – als Reise in das Unterbewusstsein, in die Offenbarungen aber auch die Abgründe der Kunst und in die Seele der Figuren.
Fotos: Titelbild/Grafik: Marko Knab
Coverfotos: DuMont Buchverlag/Presse