Lange vor den jüngsten Fluchtereignissen, rettete Stefan Schmidt Menschen vor dem Ertrinken auf dem Mittelmeer. Sein Weg führte ihn daraufhin vom Medienrummel in eine italienische Gefängniszelle bis in die Politik. Kupferblau hat den Kapitän getroffen, der stets betont, dass er „nichts außer seine Pflicht“ getan hat.
Ein Boot aufgenommen in der Totale. Im Hintergrund ist nur die Weite des Meeres zu erkennen, während auf der Nussschale dicht gedrängt dutzende Menschen ausharren. Ihr schlechter Zustand ist schon aus dem etwa 50 Meter entfernten amerikanischen Kriegsschiff zu erkennen, von welchem aus das Video aufgenommen ist. Auf einmal kippt der Kahn. Zu sehen ist, wie die „boat people“ tumultartig ins Wasser stürzen. Die Besatzung des Kriegsschiffes reagiert, wirft den Schiffbrüchigen Rettungsringe zu und das Wasser färbt sich durch die Signalmittel gelb. „Go get the Baby“ grellt die Stimme eines Amerikaners, der nicht zu sehen ist. Die panischen Schreie der Flüchtlinge werden durch das Motorengeräusch eines Schlauchbootes überlagert, das ins Wasser abgelassen wurde. Schnitt. Mehrere Matrosen versuchen einen regungslosen, kleinen Körper wiederzubeleben, der an Deck liegt. Die Mienen der Anwesenden legen nahe, dass der Versuch zu spät kommt.
„Von 80 Leuten sind elf ertrunken, davon drei Kinder“, wirft Stefan Schmidt in das sichtlich betroffene Publikum hinein. Es sind dramatische Bilder, die der ehemalige Kapitän zeigt, Szenen die in unseren Medien nicht (mehr) zu sehen sind und die manche Politiker zynisch verharmlosen. „Entweder die schauen sich so etwas gar nicht an oder sie haben ein unmenschlich dickes Fell“, sagt er. Dennoch sind ähnliche Szenen an unseren Außengrenzen Alltag, trotz engagierter Vereine, Freiwilliger und Organisationen, die sich in der Seenotrettung betätigen. Stefan Schmidt kann wohl mit Fug und Recht als einer der Initiatoren dieser Bewegung angesehen werden. Er gründete den Verein borderline-europe, ist seit 2011 Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein und wurde 2017 in seinem Amt bestätigt. Zu größerer Bekanntheit gelangte er aber im Sommer 2004.
Sympathischer Seebär
„Ich bin von Beruf Seemann“, erklärt der Seenotretter, „vom Schiffsjungen bis zum Kapitän“ habe er alle Positionen durchlaufen. Nachdem der gebürtige Stettiner, im Zuge des Weltkrieges als Kleinkind selbst geflohen, sein Kapitänspatent absolviert hatte, wurde er Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland im Inselstaat Tuvalu. Über das südpazifische Land, was auch hierzulande aufgrund seiner Webdomain .tv zu einiger Berühmtheit gekommen ist sagt er, es sei leider das erste Land, „was im Laufe des Klimawandels untergehen wird“. Schmidt erzählt, er sei ein unpolitischer Mensch gewesen, bevor er mit dem Verein Cap Anamur in Kontakt kam. Dieser setzte sich schon seit der Gründung durch Rupert Neudeck (†) Ende der Siebziger Jahre, für Flüchtlinge und medizinische Nothilfe weltweit ein. Hier kommt Schmidt auch mit seinen späteren Mitstreitern, dem ehemaligen ARD-Journalisten Elias Bierdel und Vladimir Daschkewitsch, dem späteren ersten Offizier seines Schiffes in Kontakt.
Die drei begaben sich mit einer internationalen Crew und einem umgebauten Frachter auf die Reise von Lübeck nach Westafrika, um dort Hilfsgüter und Medikamente abzugeben. „Alle bekamen die gleiche Heuer“, erinnert sich der Kapitän, „1100 Euro netto“, sodass laufende Kosten gedeckt werden konnten. Es sei „eine tolle Mannschaft“ gewesen, die im Sommer 2004 auf einen Hafen in Jordanien anlaufen wollte, um dort medizinische Güter abzuladen. Es kam aber anders.
Als die Crew am 20. Juni des Jahres 2004 knapp 86 Kilometer vor der lybischen Küste auf ein Schlauchboot stieß, hielt man die Insassen erst für Arbeiter einer nahegelegenen Ölplattform. Die „37 Leute, die mit roten T-Shirts winkten“ waren völlig erschöpft, ohne Proviant und der Motor ihres Bootes war ausgefallen. Schmidt und seine Mannschaft nahmen die Flüchtlinge auf, die erklärten aus dem Sudan zu stammen und nach Lampedusa zu wollen. Später sollte sich herausstellen, dass sie eigentlich aus Ghana und Nigeria stammten. „Ein Kapitän, der Menschen in Seenot antrifft, hat die Pflicht diese in Sicherheit zu bringen“ beschreibt Schmidt die völkerrechtliche Grundlage der Seenotrettung. Weil der Hafen in Lampedusa aber zu klein für die knapp 100 Meter Lange Cap Anamur ist, verständigt der Kapitän die Behörden im italienischen Port Empedocle. Eine Einfahrtgenehmigung wird erteilt, wie es üblich ist für ein europäisches Schiff, das in einer Notsituation Einfahrt in einen europäischen Hafen erbittet. Hier beginnt der Zwischenfall, den der Seenotretter als „grotesken Fall einer Seeblockade gegen 37 Flüchtlinge“ bezeichnet.
„Wenn Menschenleben in Gefahr sind, darf man in jeden Hafen einlaufen“
Kurz vor der Einfahrt in die Hoheitsgewässer Italiens meldete sich die Küstenwache, die der Cap Anamur ohne Angabe von Gründen die Einfahrt verweigerte. Auf Rückfrage ließ man verlauten, die Geflüchteten hätten ihren Status als Schiffbrüchige verloren. Die Lage verschärfte sich weiter, als am Horizont Kriegsschiffe und ein Helikopter zu sehen waren: Die drei Fregatten seien „wie im Krieg“ um den Frachter herumpatrouilliert. Schmidt als verantwortlicher Kapitän wusste sich nicht zu helfen, kontaktierte die deutschen Behörden, die ihm aber erst keinen glauben schenken wollten und nach Übermittlung von Live-Bildern via Skype nur mitfühlende Worte für die Betroffenen äußerten.
Die Geflüchteten richteten sich derweil auf dem Schiff auf einen längeren Aufenthalt ein. Schmidt zeigt ein weiteres Video: Diesmal sieht man einige afrikanische Männer, die auf der Cap Anamur ihre Mahlzeit zubereiten, beten und Interviews geben: Der Fall war nämlich längst öffentlich geworden. „Wir standen auf der ersten Seite in New York, in Tokio, überall“, resümiert der Seenotretter über die damalige Berichterstattung nicht ohne einen Anflug von Stolz. Und tatsächlich: Allein das Archiv von Spiegel Online führt über 200 Treffer auf, bei der Suche nach Schmidts damaligen Schiff Cap Anamur. Hilfsorganisationen wie die Ärzte ohne Grenzen fuhren hinaus in die internationalen Gewässer, um die Geflüchteten zu versorgen, Nahrung wurde an Bord gebracht und Medienvertreter dokumentierten die Lage. Die verweigerte Einreiseerlaubnis der sizilianischen Behörde hatte die Situation der Cap Anamur zu einem Politikum gemacht.
Nach elf Tagen spitzte sich die Lage zu. Zwei Geflüchtete „wollten sich ins Meer stürzen“, erklärt Stefan Schmidt, ihr psychischer Zustand sei aufgrund der Unklarheit labil gewesen. „Wenn Menschenleben in Gefahr sind, darf man in jeden Hafen einlaufen“, daher habe er ein Ultimatum an die Regierung gestellt, fährt er fort. Als daraufhin keine Rückmeldung kam, entschied sich der Kapitän dazu, den Hafen dennoch anzusteuern.
Von der Brücke in die Zelle
Unterdessen hatte der Vorfall auch die politische und mediale Öffentlichkeit Deutschlands erreicht: Ausgerechnet der Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck (†) übte, ob der medialen Aufmerksamkeit, öffentlich Kritik an den Seenotrettern , die großen Zeitungen schrieben über den Vorfall, Bundesinnenminister Otto Schily warnte vor einem „gefährlichen Präzedenzfall“ und das Fernsehmagazin Panorama schaltete zwei Sondersendungen. Mit dem ARD-Format geht Schmidt am härtesten ins Gericht. Panorama habe „absichtlich gelogen, um eine tolle Sendung zu haben“. Das Oberlandesgericht Hamburg hat den Seenotrettern nachträglich tatsächlich recht gegeben und festgestellt, dass Panorama in 19 Fällen die Unwahrheit behauptet hat.
Dies war aber nicht der einzige Prozess, den der Kapitän zu führen hatte. Denn anstatt im Hafen von Porto Empedocle „erst einmal einen Kaffee zu trinken“, wie man es insgeheim auf dem Schiff gehofft hatte, lud man Schmidt und Elias Bierdel in ein Polizeiauto ein. Die Polizisten hätten zwar „erst mal an einer Eisdiele gehalten“ und „sich dafür entschuldigt, dass sie so einen Scheiß machen müssen“, dennoch kamen die zwei mit dem Vorwurf der Schlepperei vorerst in italienische Gefängniszellen. „Ich saß mit einem Autodieb, Elias mit einem Mörder“, beschreibt Schmidt. Den Geflüchteten erging es auch nicht besser: Zwar hatte man sie unter Anwesenheit von dutzenden Medienvertretern in Busse gesetzt und Richtung Rom gefahren, jedoch wurden 36 von ihnen in den folgenden Wochen direkt abgeschoben. Die Cap Anamur wurde von den italienischen Behörden beschlagnahmt.
Bierdel und Schmidt kamen zwar nach etwa einer Woche frei, doch es folgte ein fünfjähriger Prozess mit der Anklage „bandenmäßige Beihilfe zur illegalen Einreise“, die Staatsanwaltschaft forderte vier Jahre Haft und 400.000€ Strafzahlung. „Ich war vorher ein ganz harmloser Kapitän“, erklärt Schmidt, aber nach diesen elf Tagen im Juli 2004 war nichts mehr wie zuvor: Der Angeklagte musste wöchentlich nach Italien reisen, um Gerichtstermine wahrzunehmen, 80 Zeugen wurden vorgeladen, um gegen die Besatzung der Cap Anamur auszusagen. Gerichtskosten in Höhe von „über einer Million Euro“ kamen auf den Verein zu. Schmidt erzählt von einem Zeugen, der fälschlicherweise vor Gericht behauptete, der Kapitän hätte der Küstenwache die genaue Lage der Cap Anamur vorenthalten. Nachdem die Aufzeichnungen dann vor Gericht das Gegenteil bewiesen, bestand er darauf „sich geirrt zu haben“. Erst 2009 erfolgte der Freispruch. Der „Kampf gegen politische Windmühlen, gegen seelenlose Gesetze und Verordnungen“ war damit zu Ende. Der Kapitän vermutet „eine kleine Geheimdiplomatie“ hinter dem plötzlichen Ende des Verfahrens, „kurz zuvor hatte ich nämlich mit Wolfgang Schäuble gesprochen“ merkt er an.
„Auf jeden Fall immer mit auf die Straße gehen!“ – Ein Interview mit Kapitän Stefan Schmidt
Wie haben Sie sich in den elf Tagen gefühlt, haben Sie innerlich gekocht?
Ja, es wurde immer schlimmer. Um die 37 auch ein bisschen zu beruhigen, haben wir jeden Abend kurz vor meiner Wache, die um 20 Uhr anfing, eine halbe Stunde Gottesdienst gemacht und zwar mit 27 Moslems und zehn Christen. Gemeinsam. Das war überhaupt kein Problem. Ich habe den Geflüchteten beigebracht, dass das wichtigste in der Bibel ist, und in allen Religionen gibt es diesen Satz, dass man anderen nicht das antut, was man selber nicht möchte. Eigentlich so einfach, dass selbst Idioten das begreifen müssten.
Jetzt sind Sie in einer politisch verantwortlichen Position und gestalten natürlich auch das Asylsystem mit. Was sollte man in Deutschland ändern, um einen humaneren Umgang mit diesen Menschen zu erreichen?
Dazu habe ich erst letzte Woche der RSH [Radio Schleswig-Holstein, Anm. d. Red.] ein Interview gegeben. Ich würde den Spurwechsel einführen. Wer abgeschoben werden soll, kann „die Spur wechseln“ und mit entsprechenden Referenzen ein Arbeitsvisum beantragen. Diese Leute brauchen wir und warum sollen wir Leute abschieben, die wir brauchen und die nichts getan haben? Das ist für mich nur logisch und das wird auch ein Thema bei der kommenden Preisverleihung für Jugend rettet werden.
Die Kritik an Ihnen war oft, dass Sie angeblich versucht hätten, den Vorfall 2004 zu nutzen, um die mediale Aufmerksamkeit politisch oder für den Verein zu nutzen. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?
Es ist alles Blödsinn. Der Verein war so bekannt, dass die Leute, die ich nach ihm gefragt habe, fast schon beleidigt waren. Das andere waren die Medien, die wir bei uns an Bord hatten: Wir haben niemandem gesagt, kommt mal an Bord. Die kamen alle von sich aus. Ist ja klar: Bekannt wird das. Da hat zum Beispiel jemand von einer Zeitung bei uns angerufen und meinte, das Innenministerium dementiere, dass Kriegsschiffe um uns herumfahren. Dann haben wir natürlich per Skype sofort Bilder geschickt, lebendige Bilder, wie das gerade passiert. Da wusste er sofort, dass die Regierung lügt, von Anfang an. Also Medien sind enorm wichtig, gerade jetzt, wo zum Beispiel von der AfD versucht wird Fake News in die Welt zu setzen. Medien müssen unterstützt werden. Die richtigen aber, auf keinen Fall die Bild-Zeitung. (lacht)
Im Endeffekt haben sie mediale Aufmerksamkeit dennoch ein Stück weit auch als Waffe eingesetzt …
…aber nicht für den Verein. Warum Rupert Neudeck das gemacht hat, das wusste nicht einmal seine Frau. Der war dann plötzlich wieder mediengeil oder so, sonst war er ja öfter in der Öffentlichkeit. Wir haben Leute gerettet und da greift er uns an. Da sind die Spenden für den Verein um 40% runtergegangen. Durch ihn, der den Verein Cap Anamur gegründet hat, das hat niemand verstanden.
Was kann man als einzelne Person tun, wenn man nicht gerade ein Kapitän ist, damit es an den Grenzen humaner zugeht?
Also auf jeden Fall immer mit auf die Straße gehen! Immer seine Meinung vertreten, keine Angst haben. Das kann jeder. Im Freundeskreis hat man ja wahrscheinlich auch eher andere, die auf der gleichen Schiene laufen, als irgendwelche komischen AfD-Leute. Was mir Hoffnung macht: Als wir 2004 oder 2005 den ersten Vortrag an der Uni in Kiel gehalten haben, saßen im Audimax 10 Studenten, obwohl das gerade in den Medien lief. Als ich dann mit den Studenten geredet habe, sagten sie, sie hätten viel zu tun und könnten sich nicht auch noch um Politik kümmern. Das hat sich geändert. Gottseidank hat das sich geändert.
Vielen Dank für das Interview.
Fotos: Stefan Schmidt
Das Interview ist am Montag den 06.05.2019 im Rahmen einer Veranstaltung der Demokratie in Bewegung Tübingen im Sudhaus entstanden. Der Autor dieses Beitrages engagiert sich kommunalpolitisch für diese Partei.