Über die Ermstalbahn, türkische Wurzeln und die Klimakrise

„Cem kommt“: Mit diesem Motto lockten die Grünen am vergangenen Freitagabend mindestens 200 Interessierte in den Uhlandsaal über dem Kino Museum. Was Cem Özdemir mit dem Clubhaus verbindet, wieso er Dialog für so wichtig hält und wie er dazu kam, den Innenminister zu duzen waren nur einige der Erkenntnisse des Abends.

Eines vorweg: Hätte Boris Palmer am vergangenen Freitagabend in der Mitte des Uhlandsaals gestanden, wäre der Abend um einiges lebendiger geworden. Mehr zum Tübinger Stadtoberhaupt aber später.

„Town Hall Meeting“. Sicherlich konnten sich viele der Gäste am Freitagabend nicht wirklich etwas unter diesem Begriff vorstellen. Was ist das eigentlich? Ein Bürgerdialog? Ein politischer Vortrag eines Bundestagsabgeordneten? Cem Özdemir privat? Am Ende des Abends steht fest: Es war von alledem ein bisschen was. Die Erwartungen an den Abend waren jedenfalls hoch, als bereits um kurz vor halb 8  die ersten Interessierten eintrudelten (was auf eine gewisse Überpünktlichkeit des Autors schließen lässt). Wer schon einmal im Uhlandsaal im Museum war, wird überrascht sein, dass ausgerechnet ein Grünen-Politiker in diese Location einlädt. Hohe Marmorsäulen, prunkvolle Wände und schillernde Kronleuchter passen so gar nicht zum Klischee eines Grünen. Um kurz vor 8 wird der Zustrom an Gästen spürbar stärker. Asli Kücük, Listenplatz 1 zur Gemeinderatswahl, sorgt für Nachschub an Stühlen. Auf keinen Fall dürfen Stühle verschoben werden. Offenbar befürchtet sie eine Standpauke vom Hausmeister. Kurz bevor es losgeht, füllen gut 200 Leute den Saal. Die Klientel ist durchmischt: Im Publikum finden sich junge wie alte Menschen, Frauen wie Männer, politisch aktive und Einfach-nur-so-Interessierte.

Cem kommt

Pünktlich um 19:59 Uhr betritt Cem Özdemir den Saal. Er ist wohl offensichtlich nicht mit dem Zug angereist; seine Ansichten zur Deutschen Bahn wird er später noch kundtun. Der Abend beginnt mit einer kurzen Einführung zu Cems politischem Werdegang. Bereits in den 1980ern setzte er sich für den Erhalt der Ermstalbahn ein – mit Erfolg wie man heute sieht. Danach ergreift Christoph Joachim das Wort. Er ist Mitglied im Tübinger Gemeinderat (natürlich für die Grünen) und leitet thematisch durch den Abend. Zunächst bleibt es überraschend unpolitisch. Cem erzählt von seiner Studentenzeit in Tübingen, wo er viel Zeit im Clubhaus verbrachte, selbstverständlich nur zu akademischen Zwecken. Tatsächlich studierte er Sozialpädagogik in Reutlingen. Mit einem Lachen gibt er zu, dies habe ihm geholfen, in den Bundesvorstand der Grünen zu kommen.

Mit Tübingen verbindet ihn auch das Rhetorische Seminar an der Uni. Für eine leidenschaftliche Rede im Bundestag Ende 2018 erhielt er von den Tübinger Rhetorikern den Preis für die beste Rede des Jahres. Wer nicht weiß, um welche Rede es geht, kann sie sich hier nachträglich ansehen.

Özdemir erfüllte es mit diebischer Freude, diese Rede als Deutschtürke an die AfD zu richten. Immer wieder betont er aber auch die Wichtigkeit des Dialogs in politisch schwierigen Zeiten. Er macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung der AfD. Trotzdem hält er es für essentiell mit Abgehängten aus der Gesellschaft im Gespräch zu bleiben – Parteien wie die AfD hätten es sonst leichter. Der ehemalige Bundesvorsitzende der Grünen halte es für fatal, wie die CSU den Rechtspopulisten hinterherzulaufe. Viel eher müsse man „hart dagegenhalten, aber das Gespräch mit den Leuten suchen.“

Der Terrorist im Hotel

Christoph Joachim spricht Cem auch auf die deutsch-türkische Beziehung an. Cem gibt sarkastisch zu, „die Beziehungen stehen unter einem schlechten Stern“. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Erdogan bei dessen jüngsten Staatsbesuch in Deutschland die Stirn zu bieten. Provokant trug er dabei einen Button mit der Aufschrift „Freiheit für die Gedanken“ und sprach Erdogan damit auch auf türkisch an. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel und vom Außenministerium wünscht er sich außerdem mehr Rückhalt in Sachen Erdogan. Ein Großaufgebot an Polizisten musste ihn bei der Münchner Sicherheitskonferenz schützen. Erdogan-Anhänger hatten zuvor in seinem Hotel das Gerücht gestreut, er sei ein Terrorist. Die Untätigkeit des Außenministeriums hängt Cem bis heute nach.

Zeit für Selfies war gegen Ende der Veranstaltung auch noch.

Ein Thema des Abends ist auch die Landflucht. Özdemir sieht das Problem vor allem in einem wenig attraktiven Nahverkehr. In den gescheiterten Jamaika-Gesprächen habe er sogar Horst Seehofer von der Wichtigkeit des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes überzeugen können. Seitdem duzt er den Innenminister, für Regierungsverantwortung hat es trotzdem nicht gereicht. Cem betont außerdem die Wichtigkeit von Innovation. Bewährtes muss nicht zwangsläufig die beste Lösung sein. Die Zukunft liege in der Elektromobilität. Wenn die deutsche Automobilindustrie da nicht mitziehe, überlasse man den Markt den Chinesen. Allerdings muss auch Kritik an Themen wie künstlicher Intelligenz zulässig sein. Cem will nicht in einem Staat leben, der Orwells dystopische Fantasien in den Schatten stellt. Die liberalen Demokratien müssten eine klare Antwort auf den Missbrauch künstlicher Intelligenz finden.

Die Menge lauscht gespannt den politischen Ergüssen des ehemaligen Parteivorsitzenden. Um kurz nach 9 leitet der Moderator zum zweiten Teil des Abends über: Bürger*innen stellen Fragen. Die Themenpalette ist breit gefächert, von grüner Wirtschafts- und Verkehrspolitik, über den Klimawandel bis hin zu Gemeinschaftsschulen interessiert die Tübinger*innen so einiges.

„Ab jetzt konsequent das Vier-Augen-Prinzip“

Beim Thema Tempolimit zieht Özdemir den Vergleich mit männlicher Potenz. Wer darauf bestehe, mit 250 Sachen über die Autobahn zu brettern, solle doch bitte den Urologen aufsuchen. Das autonome Fahren bringe seiner Meinung nach sowieso eine Geschwindigkeitsbegrenzung mit sich. Nicht ganz so humorvoll sieht Cem die Probleme des Klimawandels. Je später man dort Maßnahmen ergreife, desto drastischer müssten diese sein. Er wolle nicht, dass die jüngere Generation die Zeche für unzureichenden Klimaschutz zahlen muss. Viel eher müsse ein Umdenken stattfinden: „Es kann nicht sein, dass ein Inlandsflug günstiger ist als eine Fahrt mit dem Zug“. Zur Sprache kommt auch noch einmal die Türkei. Auch wenn die EU-Beitrittsverhandlungen „im Kühlregal ganz hinten“ liegen, dürften die vielen Demokraten in der Türkei nicht abgeschrieben werden. Erneut ruft Cem zum Dialog auf, bei der aber selbstverständlich Kante gezeigt werden müsse.

Dann kommt der Moment des Abends: Eine junge Frau ergreift das Wort und spricht den Bundestagsabgeordneten auf Boris Palmers Äußerungen zur Deutschen Bahn an. Der ein oder andere im Saal kann sich an dieser Stelle ein hämisches Grinsen nicht verkneifen, sitzt doch Palmer selbst direkt neben ihr. Cem macht unmissverständlich klar, dass er Palmers Äußerungen für falsch hält. Es ärgere ihn am meisten, dass genau so gut er auf dem Werbeplakat der Deutschen Bahn hätte sein können. Stattdessen legt er dem Tübinger Oberbürgermeister ein Vier-Augen-Prinzip für künftige Posts und Beiträge nahe.

So endet ein teils kontroverser, in weiten Teilen aber harmonischer Abend. Cem bedankt sich besonders beim BKA, dessen Beamte solche Veranstaltungen erst ermöglichen. Sein Abschlusswort verbindet er mit einem dringenden Wahlaufruf für den 26. Mai. Viel stehe auf dem Spiel für ein geeintes Europa, jede Stimme zählt.

Fotos: Benedikt Breimaier

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