Am Dienstagabend sprach Soziologe Stephan Lessenich in der Alten Aula darüber, wie Industrieländer ihre Probleme in andere Teile der Erde auslagern und wie sie so zu den schlechten Lebensverhältnissen in diesen Regionen beitragen. Dabei mussten sich die Tübinger damit konfrontieren lassen, dass auch diejenigen unter ihnen, die stark auf ihren Konsum und ihre Umweltbilanz achten, in großem Maße dazu beitragen.
Mit einem unscheinbaren blauen Pullover und Brille steht Stephan Lessenich da, die Zuschauer folgen jeder seiner Ausführungen. In der altehrwürdigen Alten Aula könnte vieles von dem einzelnen Herrn auf dem Podest ablenken, wie die Power-Point, die im historischen Bau wie aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. Doch der Münchner Soziologe erhält große Aufmerksamkeit. Der gesamte Saal ist bis zum Rand gefüllt, alle Stühle sind besetzt. Auch als mit weiteren Stühlen nachgerüstet wird, bleibt vielen Gästen nur ein Stehplatz oder der Fußboden. Stephan Lessenich, jahrelanger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, betont dennoch bescheiden, dass dies wohl mehr am Thema als an ihm liege, was auch sehr erfreulich sei. Im Rahmen der Vortragsreihe „Beiträge zur politischen Bildung“ spricht Lessenich offiziell über sein neues Buch „Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“. Das Buch selbst wird dennoch kaum erwähnt, das Thema des Buches hingegen wird ausführlich behandelt und von den Zuschauern interessiert verfolgt.
Die Sintflut treffe die armen Länder dieser Erde, die auf dem globalen Markt nur begrenzte Möglichkeiten haben und zu einer Produktionsweise gezwungen wären, die sie in schlechten Lebensverhältnissen gefangen hält. Mit vielen Grafiken werden die ungleiche Verteilung von BIP Armut, aber auch vermeidbaren Sterbefällen auf der Welt präsentiert. Auch, wenn Lessenich an dieser Stelle selbst von „plakativen Darstellungen und Ausführungen“ spricht, sind die Bilder eindrucksvoll und scheinen ihre Wirkung bei den Zuhörern nicht zu verfehlen. Vermutlich hätte an dieser Ungleichheit in der Welt auch niemand gezweifelt. Worauf der Münchner Soziologe dann allerdings hinausmöchte, ist der Zusammenhang zwischen unseren Lebensverhältnissen und denen in den ärmsten Regionen der Welt.
Tübingen, wie grün bist du wirklich?
Als Lessenich anspricht, dass ein Zusammenhang zwischen verschiedenen guten wie schlechten Lebenschancen besteht, ist die Überraschung im Saal noch gering, ist die Diskussion über Umverteilung, Vermögenssteuer oder Hartz-IV hierzulande doch sehr präsent. Der Soziologe möchte jedoch nicht auf einen nationalen, sondern auf einen globalen Zusammenhang hinaus. Daher stellt er auch eine bekannte Floskel um, als er sagt: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Anderer.“ Damit bezieht sich Stephan Lessenich in seinem Vortrag auf die Externalisierungsgesellschaft, die sich heute in Industrienationen finden lässt und sich durch ein Auslagern vieler Probleme und Produktionsweisen auszeichnet. Die Lebensverhältnisse in denen wir leben, sind wie im Vortrag erläutert wird, nur möglich, da sie in anderen Teilen der Welt billig genug erzeugt werden und dort dann wiederum ungleich niedrigere Lebensverhältnisse schaffen.
Dabei geht es Lessenich keineswegs nur um das billige Schneidern von Kleidung unter Sklavenbedingungen in Bangladesch. Die Externalisierung betreffe vielmehr auch Aspekte wie Nahrungsherstellung, Gesundheitssysteme und Umweltverschmutzung. So werden beispielweise die Umweltbilanzen von Ländern des globalen Südens durch die Industrienationen verdorben, indem diese dort klimaschädlichen Rohstoffabbau fördern oder lokale Rohstoffe für die eigene Produktion verlangen.
Besonders deutlich wird der Zusammenhang der Lebensverhältnisse auf der Welt als der Soziologe auf das aktuelle Thema Glyphosat zu sprechen kommt. Während bei uns über den Einsatz von Glyphosat diskutiert wird, da die verwendeten Mengen von vielen als Gesundheitsrisiko eingestuft werden, hätte unsere Lebensweise großen Einfluss darauf, dass in Argentinien deutlich höhere Mengen Glyphosat auf den Feldern zum Einsatz kämen. Diese verursachen dort wiederum ein größeres Gesundheitsrisiko. Grund wäre die Umstellung eines Großteils der argentinischen Landwirtschaft auf Soja, die den Sojabedarf der Industrieländer und vor allem der Tierzucht in diesen decken soll. Die dadurch entstandene Monokultur, ausgelöst durch unseren Lebensstil, sei nur durch Unmengen von Chemikalien aufrechtzuerhalten und schlägt sich so auf die Gesundheit der Menschen in Argentinien nieder.
Obwohl Lessenich das Publikum, spätestens seit er in der Mitte seines Vortrages Bier als Grundnahrungsmittel erwähnt hatte, größtenteils auf seiner Seite hat, blieben viele kritische Fragen nicht aus. Dabei bekamen allerdings auch die umweltbewussten Tübinger noch ihr Fett weg. So wurde noch einmal verdeutlicht, dass die aktuell in Industrieländern praktizierte Lebensweise uns alle einschließe. Gerade die Menschen, die besonders viel Wert darauf legen viel mit dem Fahrrad zu fahren und kein oder nur Bio-Fleisch zu essen, haben in Industrieländern laut Lessenich erstaunlicherweise den größten ökologischen Fußabdruck. Ohnehin sorge bereits der Rebound-Effekt dafür, dass ein Großteil der Vorteile unserer Innovationen verpuffe. Dieser beschreibt wie Menschen beispielweise eine stromsparende Glühbirne länger brennen lassen, da diese ja weniger verbraucht oder mit benzinsparenden Autos mehr fahren. Fahrrad zu fahren und Bio-Fleisch zu essen ist nicht generell falsch, dennoch gehört mehr dazu. Um wirklich etwas zu ändern, bräuchte es daher einen tatsächlichen Wandel unseres Lebensstils und dessen was wir als selbstverständlich akzeptieren. Und ja, das gilt sogar für Tübingen.
Fotos: Thomas Dinges