Vor 50 Jahren gingen vor allem junge Menschen und Studierende auf die Straße. Auch in Tübingen wurde demonstriert. Gegen den Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze und für mehr Mitbestimmung. Dieses Jubiläum haben sich unsere Redakteure zum Anlass genommen einmal nachzuforschen, wie revolutionär Tübingen war und vielleicht heute noch ist.
Besetzte Gebäude, demonstrierende Menschenmassen und gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Während der 68er-Revolten war das an der Tagesordnung. Vor allem Studierende gingen auf die Barrikaden, um sich eine „bessere Welt“ zu erkämpfen. Die Wurzeln der Bewegung lagen in den USA: Aus der Ablehnung des Vietnamkrieges, der grausame Opfer in der vietnamesischen Zivilgesellschaft forderte, entstand eine Protestbewegung, die schnell anwuchs und auch auf die Bundesrepublik überging.
In einer Zeit, in der Homosexualität in Deutschland noch unter Strafe stand und Frauen die Einwilligung des Mannes brauchten, um ein Bankkonto zu eröffnen, entwickelte sich diese Friedensbewegung schnell zu einer Strömung unter Jugendlichen, die den konservativen Zeitgeist im Allgemeinen anprangerte. Man kämpfte dafür, dass die Notstandsgesetze nicht verabschiedet werden, die Ausbeutung der „dritten Welt“ aufhört und die Nazi-Vergangenheit endlich aufgearbeitet wird. Aber auch die Demokratisierung der Universität wurde gefordert. Es sollte mehr Mitbestimmungsrecht für Studierende geben und die Lehrinhalte sollten mehr Praxisbezug zu Politik und Gesellschaft haben. Um diese Ziele zu erreichen, organisierten sich die Studierenden in Hochschulgruppen und Lesekreisen.
Du sollst beim Essen lesen
Das Sprachrohr der Bewegung waren Flugblätter und Flyer. Während man heute (nahezu) problemlos umfassende Reader, informative Handouts und aufwändig gestaltete Schaubilder in der Uni-Bibliothek zu Hunderten innerhalb weniger Minuten ausdrucken kann, gestaltete sich die Vervielfältigung von Informationen in der Zeit der 68-Bewegung um einiges schwieriger.
Zentrum der Kommunikation und Auseinandersetzung in Tübingen war das Dreieck von: Neue Aula – Clubhaus – Mensa.
In der Neuen Aula fanden regelmäßig Teach-Ins zu politischen, gesellschaftlichen oder sonstigen polarisierenden Themen statt. Bei diesen wurde über Missstände und deren Einordnung in einen größeren Zusammenhang informiert und dazu angeregt, etwas dagegen zu tun.
Die meisten Flugblätter, die hauptsächlich aus doppelseitigem Text bestanden, entstanden dagegen im Clubhaus. Wollte man damals viele Menschen mit Flugblättern erreichen, hatte man schon schnell mal die Hände und Hemden voller Druckerschwärze. Auf aufwendige Grafiken und Schaubilder wurde aus Zeit- und Kostengründen verzichtet.
Vor der Mensa wurden die Flugblätter dann verteilt. Trotz des enormen Druckaufwands hatte man beim Mittagessen damals schnell drei bis sieben verschiedene Flugblätter in der Hand. Der Spruch „Du sollst beim Essen nicht lesen“, den man damals oft von den Eltern zu hören bekam, ignorierte man dann getrost im revolutionären Eifer.
Tübingen ist nicht Berlin
Während in anderen Städten in Deutschland Wasserwerfer und Tränengas von Seiten der Polizei gegen die Demonstranten verwendet wurden, musste die Tübinger Polizei nicht auf diese Mittel zurückgreifen. Auch Schlagstöcke wurden fast nie eingesetzt. Verantwortlich dafür war zum einen die Besonnenheit der Tübinger Demonstranten, so flog zum Beispiel in Tübingen während und nach 1968 kein Stein. Zum anderen der damalige Polizeioberkommissar Eberhard Vollmer. Dieser entwickelte die sogenannte „Tübinger Linie“:
„Sobald ein Polizeibeamter beleidigt oder tätlich angegriffen wird, gibt es richtig Ärger. Dafür dulden wir auch Einiges, sogar kürzere Blockaden“.
Die Tübinger Polizei zog aber auch ihren Vorteil aus den Revolten. Musste Vollmer vor den Protesten monatelang für ein Funkgerät kämpfen, so wurde dem Präsidium nach Beginn der Demonstrationen eine ganze Kiste mit Funkgeräten gestellt, schildert der ehemalige Polizeioberkommissar in einem Interview.
Trotz des bedächtigen Auftretens der Polizei, kam es auch in Tübingen zu Verhaftungen. Bei einer Sitzblockade vor dem Amerikahaus wurden drei Aktivisten festgenommen. Sie wurden beim „Vietnam-Prozess“ vom Landesgericht Tübingen zu jeweils drei Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.
Was bleibt von 68?
Die Revolten von 1986 haben keine perfekte Welt geschaffen. Viele würden sie sogar als gescheitert ansehen: Die Notstandsgesetze wurden nicht verhindert, der Vietnamkrieg nicht beendet und die Ausbeutung der Länder des globalen Südens ist heute angesichts Flüchtlingsströmen und weltweiter Armut immer noch ein großes Thema. Waren die Ereignisse Ende der 60er also nur ein Strohfeuer ohne größere Auswirkungen?
Nicht ganz. Die Demonstrierenden von damals haben Vieles erreicht, was wir vielleicht gar nicht bewusst wahrnehmen. Das Neuphilologicum in Tübingen zum Beispiel trägt den Namen Brechtbau nur, weil Aktivisten den Schriftsteller ehren wollten. Dass wir im Epple-Haus dröhnende Musik genießen können, ist ein weiterer Verdienst der Bewegung.
Viel wichtiger aber ist, wie die 68er das gesellschaftliche Klima beeinflusst haben: Umfangreiche Mitbestimmung der Studierenden an der Universität, wie im StuRa oder in der FSVV, wäre vor den Protesten undenkbar gewesen. Auch Rollenbilder wurden im Zusammenhang mit der Bewegung überdacht. Die 68er haben dazu beigetragen, dass wir heute Freiheiten genießen, die sich Generationen vor uns kaum erträumen konnten. Es liegt an uns, diese zu nutzen.
Titelbild und Beitragsbilder 1&2: Mit freundlicher Genehmigung von Manfred Grohe
Beitragsbild 3: Marvin Feuerbacher
Text: Marvin Feuerbacher und Florian Sauer
Der kürzlich erschienene Band „1848 und 1968“ enthält viele spannende Einblicke in diese ereignisreiche Zeit in Tübingen. Er ist erhältlich im Online-Shop der Stadt Tübingen und ausleihbar in der Universitätsbibliothek.