Frans Timmermans gilt als Hoffnungsträger der europäischen Sozialdemokraten und könnte EU-Kommissionspräsident werden. Bei einem Auftritt auf dem Marktplatz hatte er die Chance, Tübingen von sich zu überzeugen. Ist es ihm gelungen? Ein Kommentar.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, was eine Lehrerin in der Grundschule zu mir sagte, nachdem sie mir eine schlechte Note in der Mathearbeit gab. Sie sagte: „Du kannst nicht einfach ein Ergebnis aufs Blatt schreiben, ohne vorher zu zeigen, mit welchem Rechenweg du zu diesem Ergebnis kommst.“
Am vergangenen Freitag hatte ich ein Déja-vu – nicht, weil ich nach all den Jahren meine Mathelehrerin wiedergetroffen hätte (Gott sei Dank), sondern weil ich bei der Kundgebung der Tübinger SPD zur Europawahl 2019 war. Im Mittelpunkt des Abends stand Frans Timmermans – seines Zeichens Vize-Präsident der Europäischen Kommission und nun Anwärter auf den begehrten Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Timmermans war eigens angereist und versuchte auf dem Tübinger Marktplatz eine Spezies zum Leben zu erwecken, die als längst ausgestorben gilt – den homo socialdemocraticus. Ein Politikertypus, der im Jahre 2019 noch Massen für soziale Politik begeistern kann. Es gelang ihm mit mäßigem Erfolg. Für jemanden, der als erfahrener Europapolitiker gilt und bald das höchste Amt der EU bekleiden könnte, fiel der Andrang bescheiden aus. Schallender Applaus ertönte an diesem Abend eher selten.
Große Ziele allein reichen eben nicht
Das mag verwundern, zumal viele der bei dieser Kundgebung vorgetragenen Positionen in Tübingen durchaus Anklang finden dürften. Die Gender Pay Gap in der EU von aktuell 20% auf 0% zu reduzieren. In allen Mitgliedsstaaten einen Mindestlohn von mindestens 60% des Medianlohns zu etablieren. Eine CO2-Abgabe mit anschließender Rückerstattung einzuführen. Sozialen Wohnungsbau über Strukturfonds zu fördern. All das sind Forderungen, bei denen man davon ausgehen könnte, dass sie bei einer weltoffenen und umweltbewussten Studentenstadt ankommen. Doch große Ziele allein reichen eben nicht. Und das hat viel mit meinem Grundschultrauma zu tun: Im Wahlkampf wollen die Leute nicht nur erzählt bekommen, was man denn als Kommissionspräsident so alles erreichen will, sondern eben auch, wie man diese Ideen überhaupt erreichen kann. Mag sein, dass man das im Wahlprogramm nachlesen kann, aber um ehrlich zu sein, macht das am Ende des Tages kaum jemand. Bleibt also die Überzeugungskraft der Kandidatinnen und Kandidaten selbst, um Wählerinnen und Wähler zu gewinnen.
Und genau hier liegt das Problem. Beispiel Mindestlohn: Überzeugend ist es wohl kaum, für einen EU-weiten Mindestlohn zu werben, wenn sozialpolitisch noch so gut wie alles von den Mitgliedsstaaten selbst geregelt wird. Das liegt mitunter daran, dass beispielsweise Ungarn enorm von seinem Niedriglohnsektor profitiert, der seit Jahren das Interesse von großen deutschen Firmen auf sich gezogen hat. Natürlich ist es nicht fair, wenn osteuropäische Fabrikarbeiter deswegen mit Hungerlöhnen abgespeist werden, während sie im Westen von der gleichen Arbeit problemlos leben könnten. Aber solange die Kompetenzen der EU in diesem Bereich begrenzt sind und man auf die Zustimmung ebenjener Staaten angewiesen ist, um Verordnungen zu Arbeitnehmerrechten zu erlassen, bleiben solche Forderungen heiße Luft.
Den Grünen unterstellte man elitären und unsozialen Ökototalitarismus
Timmermans hätte Wege skizzieren können, mit denen man osteuropäische Staaten von besseren Arbeitsbedingungen überzeugen könnte – beispielsweise über eine Kampagne, die betont, wie höhere Löhne in den jeweiligen Ländern die Kaufkraft der Konsumenten steigern und so die Binnennachfrage angekurbelt wird. Oder indem man über mögliche Lohnzuschüsse aus Brüssel verhandelt. Aber von alldem war an diesem Abend nichts zu hören.
Stattdessen tat man so, als würde man sich bei der anstehenden Wahl problemlos die absolute Mehrheit im EU-Parlament sichern und mit einem sozialdemokratischen Kommissionspräsidenten ganz Europa umkrempeln. Den Grünen, auf deren Kooperation man aller Voraussicht nach in der kommenden Legislaturperiode besonders angewiesen sein wird, unterstellte man elitären und unsozialen Ökototalitarismus. Das offenbart, wie tief der Frust darüber sitzen muss, dass reihenweise Wählerinnen und Wähler zu einer Partei abwandern, die die SPD seit Monaten in den Umfragen abgehängt hat.
Es bringt uns keinen Schritt weiter, wenn ständig irgendjemand „ein Zeichen setzen“ will
Im Wesentlichen waren die Beiträge an diesem Abend geprägt von Großbuchstaben-Trara. Dass Europa auch dann kein besserer Ort wird, nur weil man gebetsmühlenartig Begriffe wie SOLIDARITÄT, FREIHEIT oder FRIEDEN in den Raum wirft, steht wohl kaum zur Disposition. Und nein, es bringt uns auch keinen Schritt weiter, wenn ständig irgendjemand „ein Zeichen setzen“ will. Was sich viele wünschen, ist Sachpolitik. Politik, bei der man das Gefühl hat, dass schönen Worten konkrete Taten folgen. Und das erreicht man am besten, indem man sich vorher überlegt, wie man tätig werden kann, um die versprochenen Taten zu vollbringen. Wie bei einem Rechenweg eben.
Liebe Sozis, es wird Zeit, dass euch das mal jemand sagt: Hört auf uns heiße Luft zu verkaufen! Denn Europa braucht Parteien wie euch. Parteien, die Probleme wie die Klimakrise, den digitalen Wandel, die hohen Mietpreise oder Lohndumping nicht einfach weglächeln. Kurzum: Wir brauchen eure Taten – nicht eure Worte.
Beitragsbild: Marko Knab
Foto: Stefanie Bacher