Weniger ist wirklich mehr

Inspirieren und motivieren für ein gutes Leben in der Stadt, ohne viel zu haben und ohne viel zu schaden – Suffizienz ist das Stichwort. Letzte Woche fand die „Tübinger Woche für Suffizienz“ statt, ganz nach dem Motto: Weniger ist mehr. 

Noch zehn Minuten bevor sein Bus kommt, sprudelt er vor Ideen. Bis Jobst Kraus sich schnell verabschiedet, aus der Fensterfront des Werkstadthauses steigt und zur nahegelegenen Bushaltestelle läuft. Ohne großen Sang und Klang: Er wollte mit seinem Vortrag einfach inspirieren, ermutigen, motivieren. Für das Konzept der Suffizienz. Wer sich jetzt fragt, was Suffizienz eigentlich ist, ist damit nicht allein. Vielleicht hat man es schon einmal im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit gehört, einer nachhaltigeren Lebensweise – heißt das, auf Autos und Flugzeuge verzichten? Suffizienz ist nicht gleich Verzicht, betont Jobst Kraus, der ehrenamtlich und freiberuflich in verschiedenen Nachhaltigkeitsinitiativen arbeitet: Suffizienz bedeutet, kurz gesagt, gut zu leben, statt viel zu haben.

Jobst Kraus setzt sich für Nachhaltigkeit ein und hat in Tübingen evangelische Theologie, Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie studiert. Foto: Miklas Hahn.

Suffizienz ist nicht gleich Verzicht

Es hat also zwei Seiten: Die eine ist das „nicht viel haben“, und so viel weniger Ressourcen verbrauchen, das kann man zum Beispiel durch Tauschen und Teilen erreichen: „Was glauben Sie, wie oft in einem durchschnittlichen Haushalt ein Akkuschrauber über seine gesamte Lebensdauer benutzt wird?“ 13 Minuten lautet die Antwort – warum also nicht in jedem Stadtquartier einen Ort haben, an dem schnell mal ein Akkuschrauber ausgeliehen werden kann?

Mehr soziale Kontakte statt immer mehr Dinge

Das Werkstadthaus im Französischen Viertel, wo am vergangenen Mittwoch Jobst Kraus gelauscht und mit ihm diskutiert wurde, macht es bereits vor: Hier können unter anderem Werkzeuge ausgeliehen und Fahrräder repariert werden. Der Akkuschrauber ist nur eines von vielen Dingen, die der durchschnittliche Haushalt in Deutschland besitzt: 40 000 Gegenstände, wenn man jede Gabel und jedes Messer zählt, sagt Kraus. Suffizienz fragt: Brauchen wir die wirklich? Oder es ist es langsam „genug“ (lat. sufficere = genug sein)? Und da kommt die andere Seite der Suffizienz: Wenn wir genug haben, können wir uns darauf konzentrieren, mit dem was wir haben, gut zu leben. Ein Akkuschrauber weniger bedeutet: Weniger Geld ausgegeben, das durch kostbare Arbeitszeit – Lebenszeit – erworben wurde, weniger Platz und Energie verbraucht, mehr soziale Kontakte, wenn man sich dann in der Quartierswerkstatt trifft, um sich mal schnell einen auszuleihen.  „Es ist deutlich, dass sich die meisten Menschen für ein gutes Leben vor allem mehr Zeit und mehr soziale Kontakte wünschen, anstatt mehr technische Innovation und mehr Dinge zu besitzen. Trotzdem wird technische Innovation gefördert und wir arbeiten sehr viel, um uns immer mehr Dinge zu kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen.“

Franziska Straubel (links) von FIAN und Christina Just (rechts) vom Werkstadthaus haben die „Tübinger Woche für Suffizienz“ gemeinsam mit drei anderen Organisationen gestaltet. Mehr Info: http://www.werkstadthaus.de/hauptmenu/stadtteiltreff/tuebinger-woche-fuer-suffizienz/.

Was können wir gewinnen wenn wir weniger haben?

Kraus weiß aber auch, dass es nicht einfach ist, umzusteuern. Er ermuntert dazu, vor der eigenen Haustür zu beginnen und sich zu fragen: Wie könnte dieser Ort aussehen, wo fehlt etwas für ein gutes Leben? Wie könnte ein Zusammenleben aussehen? Wie auch immer die Welt von morgen aussieht: „Wir brauchen Suffizienz, denn das auf Effizienz basierende ‚grüne Wachstum‘, wie es zum Beispiel die Grünen vertreten, haut nicht hin angesichts der Tatsache, dass – besonders die Industrieländer – die planetarischen Grenzen überschreiten und den Ländern des globalen Südens ein Wachstum, wenn auch nicht im Sinne einer nachholenden Entwicklung, zuzugestehen ist“. Dabei ist die Frage nicht: Auf was müssen wir verzichten? Sondern: was können wir gewinnen, wenn wir weniger haben?

Titelfoto: Felizia Göltenboth

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