Tübinger Bürgerinnen und Bürger demonstrierten am Sonntag zum fünften Mal im Rahmen von ,,Pulse of Europe“ für ein geeintes Europa. Am Tag des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl in Frankreich richtete sich fast alle Aufmerksamkeit auf unsere Nachbarn und Freunde westlich des Rheins.
Es ist ein leicht bewölkter, aber vor allem sonniger Sonntagmittag auf dem Holzmarkt im Herzen der Tübinger Altstadt. Am Fuße der Treppe zur Stiftskirche versammeln sich einige Menschen, viele tragen blau, manche haben eine Europaflagge dabei. Oben, am anderen Ende der Treppe, ist das kleine Plateau vor der Kirchenpforte zu einer Art Bühne umfunktioniert worden. Zentral darauf zu sehen ist ein Strandmikrophon, im Hintergrund hängt unübersehbar ein Banner in Europafarben. In blauer Schrift prangen darauf die Worte ,,Pulse of Europe“.
,,Pulse of Europe“ ist der Name der Veranstaltung, die hier gleich beginnt. Das kleine Grüppchen auf dem Kirchenvorplatz hat sich inzwischen nämlich zu einer ansehnlichen Versammlung gemausert, der Holzmarkt ist voll. Um 14 Uhr erschallt die Kirchenglocke über dem Platz und man kann die Melodie der unverwechselbaren Europahymne ,,Freude schöner Götterfunken“ vernehmen. Dann verhallen die Klänge und die Menge wird ruhiger. Jürgen, der einer von ungefähr 30 Organisatorinnen und Organisatoren von Pulse of Europe in Tübingen ist und sich immer nur mit Vornamen vorstellt, tritt ans Mikrophon, um die Anwesenden willkommen zu heißen.
Gegenbewegung zu Trump, LePen und Co
Aber halt, drehen wir das Rad der Zeit vorerst ein kleines bisschen zurück. Genauer gesagt um 5 Monate und 2 Wochen: Es ist der 9. November 2016. Ein schicksalsträchtiges Datum, denn dies ist der Tag nach Donald Trumps Wahlsieg im Rennen um die US-amerikanische Präsidentschaft.
Wie auch viele andere Menschen in Europa und auf der ganzen Welt hat das Frankfurter Rechtanwaltsduo Daniel und Sabine Röder nicht mit diesem Ergebnis gerechnet. Für sie war diese Nachricht ein Weckruf, denn an jenem Tag beschließen sie gemeinsam, nicht tatenlos auf die nächste unangenehme Überraschung zu warten. Sie wollen sich für ein geeintes Europa einsetzen, um für Grundwerte wie Solidarität, Toleranz und Menschlichkeit einzustehen. Deshalb gründen sie die Bürgerinitiative ,,Pulse of Europe“, um so viele Menschen wie möglich mit ihrem Anliegen zu erreichen. Bereits Ende November findet die erste Pulse- of -Europe-Demonstration in Frankfurt statt, 200 Menschen nehmen daran teil. Von da an entwickelt sich die Bewegung recht schnell zur Erfolgsgeschichte, die ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, als am 2. April 2017 mehr als 48 000 Menschen in über 85 Städten europaweit auf die Straße gehen.
Alles im Zeichen der Wahl in Frankreich
Zurück nach Tübingen: Es ist der 23. April und hier geht Pulse of Europe diese Woche nach einer kurzen Osterpause in die fünfte Runde. Die heutigen Programmpunkte lassen ein eindeutiges Grundthema erkennen: Der in Frankreich zeitgleich zur Demo stattfindende erste Wahlgang im Rennen um die Präsidentschaft. Hierzu liefert vorerst der Tübinger Student und Mitglied der ,,Lauten Europäer“ Robert Hansen kompakte, aber fundierte Hintergrundinformationen. Um die Wichtigkeit der Wahl zu unterstreichen, gibt er zu bedenken, dass der französische Präsident oder die französische Präsidentin als Oberbefehlshaber/in einer Atommacht für viele ,,das mächtigste Staatsoberhaupt innerhalb der Europäischen Union“ ist. Die Rechtspopulistin Marine LePen, aber auch den Konservativen François Fillon und den Linken Jean-Luc Mélenchon hält er im Rennen um dieses Amt im Gegensatz zu Emmanuel Macron für ,,keine echte europäische Alternative“.
Nach dieser Rede sorgt der Medienwissenschaftsstudent Jan, der die Veranstaltung moderiert, mit einem Frankreichquiz für Unterhaltung. ,,Wieviel verdient der französische Präsident im Monat?“ fragt er zum Beispiel. Für die richtige Antwort – 20 000€ – gibt es ein kleines Täfelchen Schokolade.
Dann redet Marc Blancher, ein Dozent des Romanischen Seminars an der Universität Tübingen, der den Veranstaltungsteilnehmenden ein Stimmungsbild der französischen Bevölkerung vermittelt. Laut ihm ist die Wahl für viele ein ,,wählen um zu vermeiden“. Zumeist bedeutet das also konkret: Vermeiden eines Sieges von Marine LePen.
Nur nicht den Kopf in den Sand stecken
Wie üblich bei Pulse of Europe-Demonstrationen steht anschließend allen Teilnehmenden beim sogenannten Bürgermikrophon die Bühne offen, und dieses Angebot wird rege genutzt. Die erste Bürgerin, die redet, bezeichnet Europa als eine ,,hoffnungsvolle Familie“, für einen anderen bedeutete es in seiner Zeit als Student gar ,,nie wieder Krieg“. Manche äußern sich nicht ganz so optimistisch: ,,Unsere Zukunft ist alles andere als sicher“ konstatiert zum Beispiel eine Demonstrantin im Hinblick auf größer werdende Probleme wie den Klimawandel oder die Schere zwischen Arm und Reich. Wie man mit solchen teils überfordernden Problemen umgeht, das steht für eine andere engagierte Bürgerin fest: ,,Es ist keine Schande, keine Lösung zu haben, es ist eine Schande, den Kopf in den Sand zu stecken!“, ruft sie den Tübingerinnen und Tübingern zu.
Klassischer Abschluss der Pulse of Europe-Veranstaltung ist wie immer das gemeinsame Singen der Europahymne. Begleitet von einer Musikgruppe stimmen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen gemeinsam ,,Freude schöner Götterfunken“ an. Schließlich wird noch ein obligatorisches Bild mit gemeinsamem Flaggenschwenken geschossen, heute sogar mit ausgelassener Herzform und Frankreichfahne in der Mitte.
Noch vor 15 Uhr ist die Veranstaltung wieder vorbei, doch manche bleiben noch, um sich mit neuen oder alten Bekanntschaften zu unterhalten. Die meisten gehen recht schnell ihrer Wege und der Holzmarkt leert sich, die Mitte der Gesellschaft schweigt wieder. Aber nur bis nächsten Sonntag, denn auch dann schlägt in Tübingen wieder der Puls Europas.
Fotos: Jan Schmanns